80'er Jahre 29. Mai 1987

Eine Revolution in Hamburg.


Zur Strategie und Taktik des SDS in der Studentenbewegung von 1967 bis 1969

(Vortrag vor der „Danubia“ in München am 29. Mai 1987.)

Mitte der siebziger Jahre veröffentlichte Klaus Mehnert ein Buch über die Studentenbewegungen, die Ende der sechziger Jahre rund um die Welt gingen. Mehnert kam zu dem Ergebnis, die Studentenbewegung der Endsechziger sei die erste Weltrevolution der Geschichte gewesen.

Mehnerts These, die 68er hätten die erste Weltrevolution gemacht, wird bei denen, die erst durch die spektakulären Aktionen zwischen 1967 und 1969 mobilisiert und politisiert worden sind, auf wenig Verständnis stoßen; für sie stellt sich jene Zeit als ein großer Anstoß dar, dessen Wirkung sich leider (oder gottseidank) beständig abschwächte, anstatt millenarische Konsequenzen zu zeitigen. Dagegen ist 68 für seine Initiatoren der Musterfall einer erfolgreichen Kulturrevolution, die politische und ökonomische Konsequenzen nach sich zog. Um die Denkungsart derer, die 68 ausgelöst haben, verstehen und auch die Hamburger Ereignisse einordnen zu können, seien einige Bemerkungen über das Wesen von Revolutionen im allgemeinen und den historischen Ort der 68er Kulturrevolution im besonderen vorausgeschickt.

Revolutionen sind die Zeugungsakte der Geschichte. Immer sind Revolutionen auch großes, donnerndes Theater, - aber die Polemiken, das Pathos und die Barrikaden sind bloß die allfälligen Balzrituale. Die Lust historischer Zeugung bricht in den Erstürmungen der jeweiligen Bastille hervor. Nüchterner Zweck ist, die Gesellschaft mit einem neuen Programm zu befruchten, das in einer Gesellschaftstheorie niedergelegt ist. Deshalb werden auf dem Höhepunkt unzählige Theorien ausgestoßen, die Revolution hat so viele theoretische Führer wie Teilnehmer. Aber nur eine Theorie kommt durch und erweckt den Gesellschaftskörper zu neuem Leben.

Der Stellenwert der Studentenbewegung ist nur abschätzbar, wenn man sie mit den historischen Vorbildern vergleicht, die die 68er Revolutionäre im Kopf hatten: die Französische Revolution von 1789 und die Europäische Revolution von 1848. Die Zeitenwende von 1789 markiert die erste nationale Revolution mit gesamteuropäischen Wirkungen, nämlich der Modernisierung der politischen und ideologischen Subsysteme Europas, ihre formelle Subsumtion unter die moderne Gesellschaft.

Einen Schub der reellen Subsumtion der Gesellschaft unter die kapitalistische Modernität stellt die Europäische Revolution von 1848 dar. In den Schulbüchern steht, sie sei gescheitert. Aber jene, die die Aufstände zerschlagen hatten, sahen sich genötigt, das revolutionäre Programm zu verwirklichen. Im Resultat führte 1848 zur Herstellung des kapitalistischen Weltmarktes. Die Weltrevolution von 1968 schließlich hat, dies liegt heute offen zutage, die kulturelle Herrschaft der ideologisierten Weltöffentlichkeit durchgesetzt, also auch der Meinungsbildung und überhaupt allem Bewußtsein kapitalistische Form gegeben.

Ein Kapitalisierungsschub war das Resultat jeder der drei großen Revolutionen. Die Revolutionäre von 1789, 1848 und 1968 haben gegen vorkapitalistische Strukturen gekämpft und sie teilweise beseitigt. - Ideengeschichtlich erscheinen diese Kapitalisierungsschübe als Durchsetzung der kapitalkonformen Gesellschaftstheorie. Von den geistigen Begleitkämpfen ist nach 1789 Hegels Rechtsphilosophie, nach 1848 Marxens politische Ökonomie und nach 1968 die kybernetisch formalisierte Theorie der sozialen Subsysteme übrig geblieben. (Heute sind, entgegen manchen Prognosen, nicht die Naturwissenschaften an ihrem Entwicklungsziel eines deduktiv vollendeten Systems des Wissens angelangt, sondern die Gesellschaftswissenschaften,)

Es gibt schlechterdings keinen Bereich des gesellschaftlichen Lebens in den fortgeschrittenen (d.h. kapitalistischen) Ländern, auf den das Jahr 1968 ohne Auswirkungen geblieben wäre. Es war das Vorspiel zur sozialliberalen Ära in Westdeutschland, aber auch die christ-liberale Wende von 1983 kann als Folge der 68er Ideologie verstanden werden. Die Ideen der Studentenbewegung waren anfangs bloß liberal, in der Endphase marxistisch. 1969 gab es in Hamburg wohl kaum einen studentischen Aktivisten, der nicht das Marxsche “Kapital“ studierte. Diese Theorie praktisch zu verwirklichen, Revolution zu machen, war erklärter Wille der meisten Aktiven.

Die Verwirklichung des Marxschen “Kapitals“ ist der Kapitalismus selber. Dies ist die revolutionäre Konsequenz. Die reformistische Konsequenz aus dem “Kapital“ wurde unmittelbar danach in der sozialliberalen Epoche gezogen: der revolutionäre Charakter des Kapitalismus sollte gebrochen, die sozialen Abgründe zwischen den Klassen mit staatlichen Subventionen zugeschüttet werden; lieber Inflation als Arbeitslosigkeit.

So wie die sozialliberale Ära als Reflex der ersten, liberal-reformistischen Phase der Studentenbewegung gesehen werden kann, so die christ-liberale Wende als Widerschein der marxistisch-revolutionären Endphase der Studentenbewegung. Die Wendepolitiker haben, das muß der Neid ihnen lassen, ihre 68er Lektion vorzüglich gelernt: der Machtergreifung von 1983 ging unter dem Titel einer Tendenzwende des Zeitgeistes Mitte der Siebziger eine wohlinszenierte Wortergreifung voraus, und mehr als eine große Wortergreifung war auch die 68er Kulturrevolution nicht.

Der neue Konservativismus knüpfte sachlich insoweit an die von “Kapital“-Lektüre bestimmte Endphase der Studentenbewegung an, als er versuchte, weitere Bereiche menschlicher Tätigkeit marktwirtschaftlich zu regeln, also dem Kapitalismus formell und reell zu subsumieren. Gegen diese propagandistische Tendenz des Kapitals stemmte sich die SPD, die auch das stehende Arbeitslosenheer und die Verelendungstendenz nicht akzeptierte. Die SPD wollte Kapitalismus, aber seinen sozialen Preis nicht zahlen. Im Vergleich zur SPD machte die CDU eine fast klassische marxistische Politik und errang den Wendesieg mit historischem Recht. Die eifrigsten Totengräber der 68er Revolution waren zugleich ihre treulichsten Testamentsvollstrecker.

Auf dem Wege der Geschichtsschreibung kann man die Studentenbewegung schwerlich begreifen. Sie war ein Symbolwechsel, kein Systemwechsel. Ihre Ereignisse schwankten zwischen Scherz, Satire, Ironie und tieferer Bedeutung, zwischen Lächerlichkeit und Erhabenheit. Dieses Phänomen erfaßt nur, wer sich in den Mythos versenkt, zu dem das Jahr 1968 sehr schnell geworden ist. Des ungeachtet will ich versuchen, die wichtigsten Hamburger Ereignisse chronologisch zu berichten.

1. Die Vorbereitung

Zu Beginn des Sommersemesters 1967 legte der Sinologie-Student Erhard Neckermann dem hochschulpolitischen Arbeitskreis des Hamburger SDS ein Thesenpapier vor, dem als Motto ein Zitat von Professor von der Gablentz vorangestellt war: “Die deutsche Universität ist nicht in einer Krise, sondern in einem völligen Zerfall. Das kann nur noch durch eine Revolution geändert werden.“

Neckermanns Papier gipfelte in einer strategischen Skizze, die, frei nach Mao Tse-tung, eine defensive, eine offensive und eine Übergangsphase unterschied. Als Ziel wurde die “Politik der permanenten Universitätsrevolte“ proklamiert, deren Hauptzweck die Herstellung einer neuen Öffentlichkeit mittels “Massenaktionen der Studentenschaft an der Universität Hamburg“ sei. Die defensive Phase sollte sich auf das Sommersemester 67 beschränken und durch Rezeption politischer Konzepte und kleiner Probeaktivitäten in den Fachschaftsräten, d.h. den Studentenvertretungen auf Fachebene, charakterisiert sein. Mit dem Wahlkampf zum Studentenparlament am Ende des Sommersemesters sollte die Übergangsphase eingeleitet werden: der SDS führt einen Listenwahlkampf und nötigt die anderen Studentenvereinigungen, das gleiche zu tun. So sollte über eine Politisierung der studentischen Gruppierungen die Politisierung der Studentenschaft eingeleitet werden. Für die Übergangsphase waren zudem kleinere Protestaktionen zur ständigen Beunruhigung der Universitätsbürokratie und der Professorenschaft vorgesehen. Als Beginn der offensiven Phase war der Zeitpunkt definiert, an dem diese Aktionen des SDS auf die Studentenschaft überspringen, also relativen Massencharakter annehmen würden. Diese offensive Phase sollte möglichst lange ausgedehnt werden, damit die zu erwartende antifeudal-liberalistische Reform radikal ausfällt und auch für die Universität sozialistische Perspektiven sichtbar werden.

Die Ereignisse scherten sich natürlich nicht um die Strategie des SDS, sondern verliefen höchst eigendynamisch. Aber betrachtet man die nachfolgenden Aktionen fälschlicherweise als Inszenierungen des SDS, anstatt als genutzte Öffentlichkeiten, die offizielle Institutionen hergestellt hatten, erscheint der SDS-Plan als weitgehend gelungen. Die Rektoratsfeier vom 9. November 1967, auf der Detlev Albers und HinnerkBehlmer das weltberühmt gewordene Transparent “Unter den Talaren Muff von tausend Jahren“ den in das Auditorium Maximum einziehenden Ordinarien vorantrugen, markierte weithin sichtbar den Eintritt in die “offensive Phase“. Sodann folgte Aktion auf Aktion: Podiumsdiskussionen, Teach-ins, Vollversammlungen, Belagerung des akademischen Senats, regelmäßige Sprengung der Wenke-Vorlesung und Umwandlung in ein SDS-geführtes Seminar, Kirchen-Aktion gegen Wenke-Freund Thielicke, Bundeswehr-Aktion gegen Thielicke-Freund General Wolff, hochschulpolitische Diskussionen in den Vorlesungen von Mitgliedern des Akademischen Senats, Rektoratsbesetzung und Verhör des Rektors Ehrlicher (“Ehrlicher wird immer entbehrlicher“), Hofstätter-Aktion und Sprengung einer Rektor-Wahl. Am Ende des Wintersemesters 67/68 erlangte der SDS eine starke Parlamentsfraktion und Einfluß in den Fachschaften. Im Sommersemester 68 schlief die “Politik der permanenten Hochschulrevolte“ ein. Aber das wichtigste Ziel, im Konfliktfalle auf ein Mobilisierungspotential von etwa 2000 Studenten zurückgreifen zu können, wurde erreicht und ungefähr bis zu Beginn der siebziger Jahre gehalten.

Aber die Ereignisse sind es wert, etwas ausführlicher erzählt zu werden.

II. Das Fanal

Am 2. Juni 1967 erschoß in Berlin der Kriminalbeamte Kurras den Soziologie-Studenten Benno Ohnesorg auf einer Demonstration gegen den Schah von Persien. Die Kugel war von schräg unten in den Hinterkopf eingedrungen.

Am 3. Juni ist der Schah in Hamburg. Persische Jubel-Demonstranten werden von der Polizei direkt gegenüber der Staatsoper in die Bannmeile geschleust, deutsche Gegen-Demonstranten außerhalb der Bannmeile mit Pferden niedergeritten und verprügelt.

Als am 7. Juni der Allgemeine Studenten-Ausschuß (AStA) der Hamburger Universität auf dem Campus eine Trauerfeier für Benno Ohnesorg veranstaltete, nahm zwar Martin Leddin, der Chef der Hamburger Schutzpolizei, daran teil, nicht aber die Professoren, die seelenruhig ihre Vorlesungen hielten und den Eindruck erweckten, sie hielten einen Kopfschuß für das vorhersehbare Risiko eines demonstrierenden Studenten. Die AStA-Vorsitzende Helga Bauer sagte auf der Trauerkundgebung: “Mir fehlen die Worte, um meine Erschütterung über die Haltung des akademischen Senats zum Ausdruck zu bringen, der sich nicht bereitfinden konnte, an dieser Trauerkundgebung teilzunehmen.“ Tage zuvor hatte Rektor Schäfer eine turbulente Sitzung des Studentenparlaments unter Eklat verlassen.

Heutzutage, in einer durch den Anblick der Islamischen Republik in Persien abgehärteten Weltöffentlichkeit, ist schwer nachzuvollziehen, was den Herrscher aus dem Morgenlande zu solch einer Herausforderung für die moralempfindlichen Studenten machte. Des Rätsels Lösung ist aber recht einfach: Chomeini mit seinem Blutbrunnen ist ein so lupenreiner orientalischer Despot, daß er der Seele des Abendlandes nicht gefährlich wird, weil er ihr absolut fern und unverständlich bleibt. Für die Mullahs sind die Iraner allein verantwortlich. Der Schah dagegen war ein vom Westen gekaufter, nur halber Despot, mit gewissen westlichen Schwächen für emanzipierte Frauen und französische Lebensart. Der Schah, der nur eine verhältnismäßig dünne Blutspur hinterließ, hat die westlichen Werte kompromittiert, der Blutsäufer Chomeini aber hat sie aufgewertet.

Nach dem Schah-Besuch veröffentlichte der Bundesvorstand des SDS eine Erklärung, in der “Niederlage oder Erfolg der Protestaktion“ ausgelotet wurde. Darin hieß es: “Der SDS fordert die Studenten zur Solidarität mit allen auf, die gegen die wirtschaftlichen, politischen und psychologischen Unterdrückungs- und Ausbeutungsformen des Kapitalismus protestieren und kämpfen.“

An dieser Formulierung ist bemerkenswert, daß sie erstens den später von Rudi Dutschke geforderten “langen Marsch durch die Institutionen“ propagiert, und daß sie zweitens neben der wirtschaftlichen Ausbeutung auch eine politische und eine psychologische konstatiert. Damit, daß der SDS die politischen und psychologischen Formen als ebenso wichtig wie die ökonomischen erkannte, hatte er den Ökonomismus der traditionellen Linken überwunden und den Grundstein zur modernen Theorie von der Formidentität der psychologischen, politischen und ökonomischen Subsysteme der kapitalistischen Gesellschaft gelegt.

Nach den Schah-Unruhen macht der SDS kleinere Aktionen. Es wird versucht, das Wissmann-Denkmal umzustürzen. In den Fachschaftsräten wird das Kooptationsunwesen bekämpft und beseitigt. Die konzeptionellen Köpfe der linken und der liberalen Studentenbünde bereiten eine “Kritische Universität“ vor.

In Hamburg gibt es zwischen SHB und SDS einen Disput um die richtige Taktik. Der SHB will die Aufklärung der Bevölkerung forcieren, Verständnis für die Notwendigkeit einer Hochschulreform wecken, um sie dann inneruniversitär leichter in Gang setzen zu können. Der SDS will das schwache studentische Protestpotential auf dem Campus zusammenhalten und vorerst ausschließlich gegen die Strukturen der Ordinarienuniversität einsetzen. Schon im Januar 1968 wird sich zeigen, daß die taktische Konzeption des SDS die realistischere Verlaufsprognose der Studentenbewegung in Hamburg enthielt.

Die wichtigste Vorbereitung für den Sturmangriff auf den universitären Feudalismus war ein Umsturz innerhalb des SDS. Auf einer Mitgliederversammlung irgendwann im Sommersemester 67wurde im Handstreich der Vorstand abgeschafft und durch eine Aktionstruppe ersetzt, deren Zusammensetzung wöchentlich, auf dem samstäglichen Jour-fixe, geändert werden konnte. Damit war der SDS kein sozialdemokratischer Verein mehr. Die aktivistischen Spitzen konnten kurzfristig erneuert werden und waren für neugewonnene Sympathisanten offen.

Aber nicht nur diese organisatorische Struktur des SDS war eine Voraussetzung der Angriffsfähigkeit, sondern auch die seelische Verfassung seiner Mitgliedschaft. Diese “studentische Verbindung der schlagenden Argumente“ bestand aus sehr verschiedenen Typen: den Nazi-Kindern, den Kommunisten-Kindern, den Gewerkschaftsjungen und den Gesamtdeutschen. Die Gesamtdeutschen waren DDR-Kinder vom Schlage Rudi Dutschkes; sie waren die Programmierer der Revolte und durch sie wurde 1968 zur ersten gesamtdeutschen Bewegung nach dem Zusammenbruch des Deutschen Reiches im Jahre 1945.

Die Kommunisten-Kinder wurden später meistens Lehrer, konforme Aufsteiger der ersten Generation und darin den Gewerkschaftsjungen verwandt, die aber vorzugsweise Ökonomie, Naturwissenschaft oder Politik über den zweiten Bildungsweg studierten, die Erfahrung des Sitzfleisches hatten und dem Herkommen nach den SDS dominierten, Die Nazi-Kinder studierten zumeist Medizin, Jura oder Philologie und waren die seelisch explosivste Gruppe. Entscheidend war: nur die Nazi-Kinder brauchten, ihrer eigenen Reifung zuliebe, einen Vatermord, also dasselbe, was die westdeutsche Gesellschaft nötig hatte. Für die Nazi-Kinder resümierte sich der Vatermord in der Parole vom Sturz der Ordinarien, für die DDR-Kinder in der verbandsinternen Entmachtung der Kommunisten-Kinder und der Gewerkschaftsjungen. Die Nazi-Kinder ergriffen mit Hilfe der dialektisch geschulten DDR-Kinder die Macht im SDS und die symbolische Tötung der Nazi-Väter – der Sturz der Ordinarienherrschaft an den Universitäten – konnte beginnen.

III. Der Sturmangriff

Am 9. November 1967, bei der feierlichen Übergabe des Rektorats an den Ökonomen Werner Ehrlicher, wurden die versammelten Hamburger Professoren von den Studenten mit Spott und Hohn überschüttet. Es begann damit, daß beim Einzug der Professoren die ehemaligen AStA-Vorsitzenden Albers und Behlmer plötzlich das Plakat “Unter den Talaren Muff von 1000 Jahren“ entfalteten und den ahnungslosen Talarträgern vorantrugen. Beim Rechenschaftsbericht des scheidenden Rektors wie bei der Antrittsrede des neuen gab es laufend Zwischenrufe, Sprechchöre und sonstige Mißfallenskundgebungen. Professor Ehrlicher hatte zwar ein hochaktuelles Thema – “Die wirtschaftliche Rezession der Jahre 1966/67 in der Bundesrepublik“ – gewählt, aber die Studenten wollten nur etwas über die Reform der Hochschule hören.

Der AStA-Vorsitzende Björn Paetzoldt führte in seiner Rede einen Mängelkatalog der Universitätsausbildung von A bis Z vor. Zum Schluß drohte Paetzoldt: “Der AStA und die Fachschaftsräte haben seit Jahren auf die Mißstände an der Universität hingewiesen. An wen auch immer wir uns wandten, ob an die Professoren oder an die Politiker, wir haben keinen Erfolg gehabt. Wir fordern, daß wir Studenten in den universitären Gremien endlich paritätisch vertreten sind. Sollte es aber an der notwendigen Einsicht der Universität fehlen, so bleiben uns nur noch die Obstruktion und die Gründung einer Gegen-Universität.“

Als die Talarträger wieder ausziehen, ruft einer der Professoren den Studenten zu: “Ihr gehört alle ins KZ!“ Das Tiefenthema ist angeschlagen.

Die Reaktion der Öffentlichkeit auf diesen historischen Tag der Hamburger Universität ist sofort sehr klar; man erkennt die Berechtigung der studentischen Proteste weitgehend an, verurteilt aber meistens ihre Form, wenn auch nicht einhellig, denn deren Wirksamkeit ist offensichtlich. Die Initiatoren können jetzt in der Presse ihre Forderungen präzisieren. Der Rektor sieht sich seinerseits zu Pressekonferenzen veranlaßt. Am 15. November findet eine öffentliche Diskussion mit dem Rektor und einigen Professoren statt. Am folgenden Abend wird die Diskussion mit dem Rektor und den Dekanen der Fakultäten im Auditorium Maximum fortgesetzt. Es geht hauptsächlich um paritätisch besetzte Reformkommissionen. Die Professoren taktieren, versuchen wie typische Politiker sich nicht festlegen zu lassen. Der Student Holger Oehrens gibt daraufhin das Stichwort des Abends: die Professoren seien wie “Quallen“. Etwas später fühlen der Rektor und seine Dekane sich vom Vorwurf der Arroganz beleidigt und ziehen aus. Am 17. November findet eine Vollversammlung der Studenten mit dem hochgemuten Motto “Kritik der reinen Universität“ statt. Zahlreiche Resolutionen zu Reformfragen werden verabschiedet und eine Demonstration in den akademischen Senat beschlossen. Die Studenten setzen nach, verfolgen die Talare in das Allerheiligste ihrer Macht.

Am 24. November veranstalten Funk und Fernsehen im Audimax die große Podiumsdiskussion “Revolution 1967?“ mit Rudi Dutschke, Rudolf Augstein, Ralf Dahrendorf, Knut Nevermann, Harry Ristock und Jens Litten; es ist ein großes Medienspektakel, bei dem von den Hamburger Studenten nur soviel deutlich wird, daß sie von Dutschke sich begeistern lassen.

Das eigentliche arcanum der Ordinarienherrschaft war weder die akademische Feier noch der akademische Senat, sondern die Zelebrierung der Wissenschaft in der großen Vorlesung. Auf dieses Zentrum mußte also der Hauptangriff geführt werden. Im November-Heft der Studentenzeitschrift “Auditorium“ veröffentlichte ich daher einen Vorlesungsverriß über den Pädagogik-Professor Hans Wenke, der zu Zeiten des Bürgerblocks Hamburger Schulsenator gewesen war. Wenke reagierte wie erwartet und warf mich am 30. November aus seinem Hauptseminar hinaus.

Der Konflikt war programmiert. Der SDS gab eine Pressekonferenz, legte eine Dokumentation zu gewissen Fehlleistungen Wenkescher Pädagogik vor und kündigte an, man werde Wenke in seiner großen Vorlesung zur Diskussion stellen. Wenkes Vorlesungen wurden wiederholt durch Diskussionen umfunktioniert. Wenke und die, die ihm beisprangen, waren in aussichtsloser Lage, weil sie Wenke nur gegen die “gossenhafte Frechheit“ des Verrisses, nicht aber die Sache selber, nicht seine Lehre, verteidigen konnten.

Hamburgs Startheologe Helmut Thielicke startete einen Entlastungsangriff für Wenke: “Armes Deutschland. Statt einer Vorlesung“. Die “Welt“ veröffentlichte den vollen Wortlaut. Rektor Ehrlicher, Senator Drexelius, die Philosophische Fakultät und der Akademische Senat, Wenkes Assistenten und Doktoranden, zahllose Leserbriefschreiber in der Lokalpresse schlugen sich für Wenke und machten die Niederlage der Ordinarien in der Universität komplett. Der Konflikt zog sich bis Mitte Januar des Jahres 1968 hin. Am Ende forderte eine Vollversammlung der Studenten den Rücktritt von Senator Drexelius. Bei Hamburgs tonangebenden Politikern, Journalisten und (klügeren) Professoren aber hatte sich die Überzeugung durchgesetzt, daß ein neues Hochschulgesetz und damit eine gründliche Reform der Universität nötig war. Die Studenten hatten ihre Bastille gestürmt.

IV. Rückschläge

In jedem Sieg steckt eine Niederlage. Als Wenke, exemplarisch für alle Ordinarien, sein Katheder geräumt hatte und es nie wieder besteigen sollte (er starb ein Jahr danach), verlor die kritische Doktrin ihre Notwendigkeit. Und eine positive Doktrin, etwa eine marxistische Pädagogik, gab es damals nicht. Konzeptmangel machte sich bemerkbar, denn der Feudalismus-Vorwurf gegen die alte Universität der Ordinarien war inzwischen öffentliches Gut. Im SDS begann das Studium der politischen Ökonomie.

Im AStA der Universität hatten inzwischen die rechten Sozialdemokraten Litten und Jankowski den Vorsitz übernommen und probierten Große Koalition: die wichtigsten Referate bekamen RCDS-Studenten.

Am 11. April 1968 gibt ein junger Arbeiter namens Josef Bachmann auf dem Kurfürstendamm in Berlin drei Revolverschüsse auf Rudi Dutschke ab. Dutschke bleibt für Jahre außer Gefecht gesetzt, der SDS und die deutsche Studentenbewegung haben ihre Symbolfigur verloren.

Äußerlich erlebt die Studentenbewegung jetzt ihren Höhepunkt. In Hamburg wie überall in der Bundesrepublik kommt es zu Demonstration gegen den Springer-Verlag, den die Studenten für ihre teilweise schlechte Presse verantwortlich machen. International gibt es Solidaritätsdemonstrationen für Rudi Dutschke und die deutschen Studenten. Die “Osterunruhen“ von 1968 fordern zwei Tote und Hunderte von Verletzten; der Bundestag kommt zu einer Sondersitzung zusammen. Innenminister Benda erklärt den SDS zur verfassungsfeindlichen Organisation. Der Hamburger SDS-Führer Karl-Heinz Roth versteckt sich ein Jahr lang vor der Polizei, um einem Haftbefehl zu entgehen. Im Mai 68 kommt es weltweit zu Universitätsbesetzungen, Massendemonstrationen und Straßenschlachten der Studenten, die in Frankreich durch Generalstreik und Fabrikbesetzungen zum “Pariser Mai“ abgerundet werden.

Daß der SDS mit Dutschkes Ausfall die Initiative verloren hatte, zeigte sich besonders deutlich daran, daß er sich für die Kampagne gegen die Notstandsgesetze funktionalisieren und auf einen Sternmarsch nach Bonn mitnehmen ließ.

In Amerika wurde der schwarze Bürgerrechtler und Gewaltlosigkeitsapostel Martin Luther King erschossen, was eine Serie gewalttätiger Ghetto-Aufstände auslöste; die deutschen Studenten aber philosophierten über Gewalt, doch einige taten das so wenig gründlich, daß sie praktische Versuche nötig hatten und irgendwann mit Polizeikugeln im Bauch auf dem Straßenpflaster lagen.

Die Studentenbewegung hatte Genie, weil und insoweit sie mit dem jungen Marx die feste Überzeugung teilte, “daß nicht der praktische Versuch, sondern die theoretische Ausführung..‚ die eigentliche Gefahr bildet, denn auf praktische Versuche, und seien es Versuche in Masse, kann man durch Kanonen antworten, sobald sie gefährlich werden, aber Ideen, die unsere Intelligenz besiegt, die unsere Gesinnung erobert, an die der Verstand unser Gewissen geschmiedet hat, das sind Ketten, denen man sich nicht entreißt, ohne sein Herz zu zerreißen“. Folglich war nicht der Terror, sondern die Theorie das von den Konterrevolutionären jeder Couleur Gefürchtete, das der Studentenbewegung entsprang.

V. Triumph und Zerfall der Hamburger Studentenbewegung

Im Januar 1969 gibt es bei den Wahlen zum Hamburger Studentenparlament einen Linksrutsch; die liberalen, sozialdemokratischen, humanistischen und sozialistischen Studentengruppen (LSD, SHB, HSU, SDS) erringen fast eine Zweidrittelmehrheit.

Im Grunde war im Laufe des Jahres 1968 die Taktik des rechten SHB, die den Primat der außeruniversitären Aktion vertrat, befolgt worden. Damit hatten die Studenten sich aber blutige Köpfe und solide Ohnmachtserlebnisse geholt, denn die Macht im Staate stand nicht zur Disposition.

Was aber anstand, die Reform der Universität, war nicht recht vom Fleck gekommen und das neue Hamburger Hochschulgesetz, das im Mai 69 in Kraft treten sollte, erschien den Studenten als viel zu rückständig. Dies führte zur erneuten Umorientierung des studentischen Protestpotentials auf Universitätsfragen; der SDS hatte wieder Tritt gefaßt und folgte weiter seinem eigenen taktischen Konzept. Allerdings mußte eskaliert werden. Der SDS sprengte jetzt nicht mehr nur Vorlesungen, sondern besetzte die Institute. Erstes Opfer dieser neuen “Taktik der befreiten Institute“ waren die Psychologen.

Anfang Februar gab es im Anschluß an Demonstrationen gegen den Entwurf des neuen Hochschulgesetzes studentische Besetzungen und polizeiliche Entsetzungen verschiedener Institute im Philosophenturm: des Psychologischen Instituts und des Germanischen und des Historischen Seminars. Dabei kam es zu ganz ansehnlichen Duellen mit der Polizei. Schließlich wurde der ganze Philosophenturm gesperrt, mit Nato-Stacheldraht gesichert und von einer Polizeitruppe besetzt gehalten. Im letzten Moment war also dem SDS noch der Nachweis gelungen, daß Polizeistaat und Ordinarienuniversität irgendwie miteinander zusammenhängen.

Dieser Triumph des studentischen Aktionismus war sicherstes Anzeichen des bevorstehenden Zerfalls der Studentenbewegung. Zum Wintersemester 1969 gab es dann sogar ein “AStA-Kollektiv“, d.h. einen reinen SDS-AStA unter Malin, Hinrichsen und Roth. Daß aber der Geist der historischen Notwendigkeit aus dem studentischen Aktionismus entwichen war, wurde mit den Septemberstreiks der westdeutschen Stahlarbeiter und dem Antritt der sozialliberalen Bundesregierung im Oktober auch dem Hamburger SDS klar.

Die letzte politische Debatte im Hamburger SDS war bezeichnenderweise die Schulungsdebatte vom September/Oktober 1969. Die dabei vorgetragenen Konzepte ließen genau die verschiedenen Richtungen erkennen, in die dieser Landesverband, der seine historische Aufgabe erfüllt hatte, auseinanderbrechen würde: (a) das von Hahn und Hinrichsen vertretene Konzept “revolutionäre Berufsperspektive“ (beide wurden Staatsbeamte), (b) das materiale Sozialforschungskonzept von Roth (der sich zum nebenberuflichen Sozialhistoriker entwickelt hat), (c) das leninistische Schulungskonzept aus dem Lehrlingszentrum (das die konterrevolutionäre Qrganisation KB-Nord hervorbrachte) und (d) mein Formalisierungskonzept (mit dem die Marxsche Theorie vollendet wurde).

Zu Beginn des Jahres 1970 tat die Regierung der sozialliberalen Koalition zwei recht kluge Dinge. Erstens erließ sie eine Amnestie für Demonstrationsdelikte, und zweitens lobte sie Doktorandenstipendien aus. Resultat war, daß viele studentische Aktivisten plötzlich nicht mehr revoltierten, sondern promovierten.

VI. Perspektiven

Weil die Vergangenheit fortwährend beginnt, kann die Zukunft nicht beginnen, die Vergangenheit nicht enden und dauert die Gegenwart ewig. Alle Perspektiven ergeben sich aus Retrospektiven.

Die Studentenbewegung von 1967 bis 1969 hat an den deutschen Universitäten den Übergang von der traditionalen Herrschaft zur bürokratisch-rationalen Herrschaft erzwungen, und zwar mittels charismatisch-revolutionärer Techniken. Aber die Studentenbewegung war auch die Konstituierung einer neuen Generation – eben der 68er – gegen die übermächtige 45er Generation. Im Nachhinein stellt sich dieser Generationenaspekt als ein Kampf zwischen Schuld und verlorener Unschuld dar. Haben die 45er Auschwitz ignoriert, so haben wir 68er für einen Pol Pot demonstriert. Aber gerade der unrühmlichste Aspekt von 68, sein Antifaschismus, der keinerlei Mut forderte und mit den Siegern konform ging, hat sich allgemein durchgesetzt. Die Verbrechen, die der ahnungslose Konformismus deckt, geschehen niemals in der Vergangenheit, sondern immer in der Gegenwart. Die Dialektik unseres Sieges hat es soweit gebracht, daß Faschismus und Antisemitismus heute in der Tat die einzigen Positionen sind, die einzunehmen in Deutschland moralischen Mut und intellektuelle Kühnheit erfordern würde. Diese Kühnheit hatte in den Sechzigern nötig, wer die Marxsche Theorie in akademische Anwendung brachte und hat heute nicht nötig, wer sie als unmodernes Thema ignoriert. Allerdings hat es einen so plötzlichen und hemmungslosen Verrat an Marx wie bei den französischen Intellektuellen in Westdeutschland nicht gegeben.

Daß es an den Universitäten so bald noch einmal einen Umsturz von unten geben wird, ist sehr unwahrscheinlich, und deutscher Tradition entspricht auch mehr die Revolution von oben. Radikale Änderungen der Struktur stehen der bürokratisierten Massenuniversität noch ins Haus, denn sie ist weder formell noch reell dem Kapitalismus subsumiert. Erst die Privatisierung des Studiums und der Wissenschaft ermöglicht die industrielle Revolution auch auf diesen Gebieten. Da die Massen sich heute vor dieser Perspektive eher fürchten, ist von unten nichts Revolutionäres zu erwarten.

Ein privatkapitalistisch hochindustrialisierter Ausbildungs- und Wissenschaftssektor erst ermöglicht jene modernisierte, die ökologische Krise meisternde Industriegesellschaft, in der die extraktiven Industrien weitgehend durch Kreislaufprozesse ersetzt und den verarbeitenden Gewerben simulative Industrien vorgeschaltet sind. Simulative Industrien beruhen auf dem Ersatz materieller durch theoretische Produktion; aus simulierten Prozeß- und Produktlinien können die theoretisch bewährten Varianten in die materielle Realisation gezogen werden, bei ständig fortsimulierten Alternativlinien, in die gegebenenfalls eingestiegen werden kann, wenn und solange sie in der optimalen Phase ihrer Entwicklung sich bewegen. Privatisierung und Industrialisierung der öffentlichen Dienste ist aber die unverzichtbare Voraussetzung, die erst die notwendige Produktivität der gesellschaftlichen Lernprozesse schafft, die den Souverän in den Stand setzt, seine existentiellen Aufgaben anzupacken.

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