Viertes Reich 9. Oktober 1993

Die Carl-Schmitt-Falle


Die deutschen Denker stecken in der Carl-Schmitt-Falle. Neigen sie der Rechten zu, so halten sie die Unterscheidung von Freund und Feind für den wesentlichen politischen Unterschied oder gar für den Begriff des Politischen selber.

Das Elend der rechten Denker ist, daß sie rechts denken, aber nicht das Recht und also nicht das Politische begreifen. Das Elend der linken Denker liegt darin, daß sie vergessen haben, was eine politische Linke soll und wozu ihre Denker beizutragen haben: das Recht zu erfassen und es auch den Entrechteten zu verschaffen. Stattdessen suchen sie sich als Ersatzaufgabe die Bekämpfung eines rechten Feindes, halten das für einen politischen Kampf und stecken praktisch am tiefsten in der Carl-Schmitt-Falle, verstärkt durch den Wahn theoretischer Verwerfung der Freund-Feind-Unterscheidung.

Ich werde also zunächst Leistungen und Grenzen des politischen Denkens bei Carl Schmitt (I) betrachten und sodann die politische Substanz anderer Autoren der Konservativen Revolution und des nationalen Lagers bis an die Gegenwart heran (II) prüfen. Zweck dieser schriftstellerischen Bemühung ist, den deutschen Denkern jeglicher Couleur – ob links, ob rechts, ob heidnisch, ob christlich – durch Wiedererhebung zu der Gedankenhöhe des Deutschen Idealismus einen gemeinsamen Begriff des Politischen zu geben, sie dadurch nicht nur aus der theoretischen Carl-Schmitt-Falle zu befreien, sondern auch praktisch von innerdeutscher Feindschaft zu erlösen und aus dem alltäglichen Elend des fremdländischen Denkens heimzuholen.

I

„Souverän ist“, sagt Carl Schmitt, „wer über den Ausnahmezustand entscheidet“. (11)1 Diese Bestimmung der Souveränität ist falsch, weil in ihr Gott nicht vorkommt und sie selber nur Dezision ist, nicht Deduktion. Diese Bestimmung ist weder eine politische noch eine theologische und also auch keine der politischen Theologie.

Zu seiner Souveränitätsauffassung schreibt Carl Schmitt: „Diese Definition kann dem Begriff der Souveränität als einem Grenzbegriff allein gerecht werden. Denn Grenzbegriff bedeutet … einen Begriff der äußersten Sphäre. Dem entspricht, daß seine Definition nicht anknüpfen kann an den Normalfall, sondern an einen Grenzfall.“ (11)

Die Normalität ist, wie Carl Schmitt richtig sieht, das Gebiet der Normierbarkeit, der scheinbaren Gesetzesherrschaft, die Entscheidung über die Ausnahme aber „im eminenten Sinne Entscheidung“, und eine Norm könne die absolute Ausnahme niemals erfassen. – Was am Ausnahmezustand aber politische Theologie sein soll, führt Carl Schmitt nicht aus; es sei denn, man sieht in seiner Souveränitätsdefinition die staatstheoretische Umschreibung des Sprichwortes „Not lehrt beten“. An der Entscheidung im eminenten Sinne ist aber nichts Souveränes zu entdecken, sind doch gerade in Ausnahmezuständen nicht nur die Dringlichkeit und Notwendigkeit zur Entscheidung, sondern auch der durch die Not selber diktierte Inhalt der Entscheidung hochgradig festgelegt. War die Entscheidung falsch, rächt sich dies umgehend und der Entscheider wird von irdischen Mächten, von Entscheidungsunterworfenen oder von äußeren Feinden, in Rechenschaft genommen. Von echter Souveränität, die so und auch anders entscheidet oder überhaupt nicht zu entscheiden braucht, ohne einer menschlichen Instanz dafür Rechenschaft ablegen zu müssen, ist keine Rede.

Souverän ist jede Entscheidung, die vor Gott allein zu verantworten ist. Vor Gott tritt man aber als Person und nur in der Frage, ob man das ist, als was man auftritt: ob der Einzelne oder das Volk sich als Person und damit als Ebenbild Gottes gewahrt hat. Dies ist immer die Entscheidung über Sein oder Nichtsein des Göttlichen und damit des Politischen im Menschlichen. Es ist kein Begriff der Grenze; es ist ein Begriff der Grenzüberschreitung zwischen Diesseits und Jenseits: vom Anwesen des Göttlichen im diesseitig Menschlichen und des Menschlichen im jenseitig Göttlichen.

Carl Schmitt kämpfte sein Lebtag lang gegen das Gesetz und für das Recht. Noch im Nomos der Erde von 1950 spricht er (S. 41) vom Gesetz als einem „Unglückswort“. Dieser Kampf hatte einen seiner Gipfelpunkte auch in dem berühmten Artikel „Der Führer schützt das Recht“ (in: „Deutsche Juristen-Zeitung“ vom 1.8.34); der Titel gibt die gültige Bestimmung jedes politischen Führers. – Schon dieser Einsicht wegen ist Carl Schmitt ein großer, ein genialer Jurist, der die Norm sprengt. Juristen-Norm2 ist leider, daß Recht und Gesetz nicht unterschieden wird. Carl Schmitt dagegen suchte nach dem Rechtscharakter des Ausnahmezustandes als jenem Grenzbereich, worin die Herrschaft des Gesetzes mit Sicherheit außer Kraft ist. Zugleich kritisierte er an der Jurisprudenz der Weimarer Republik, daß sie die Diktaturvollmacht im Art. 48(2) WRV wiederum als Gesetzgebungskompetenz mißverstand. Schmitt suchte den juristischen Weg, auf dem er das Recht zur alleinigen Grundlage seines Denkens machen konnte. „Die Ausnahme ist interessanter als der Normalfall. Das Normale beweist nichts, die Ausnahme beweist alles; sie bestätigt nicht nur die Regel, die Regel lebt überhaupt nur von der Ausnahme. In der Ausnahme durchbricht die Kraft des wirklichen Lebens die Kruste einer in Wiederholung erstarrten Mechanik.“ (22)

Der Ausnahmezustand spiele die Rolle in der Politik wie das Wunder in der Theologie. Der Ausnahmezustand soll wunderbar sein und eine überraschende Wendung der Dinge bringen, und das Wunder soll eine Ausnahme bleiben. Die Ausnahme ist kein Zustand, sondern eine Wende, worin die Verhältnisse sich drehen. Derartiges ist in jedem Fach bisweilen nötig und also ein naturaler Begriff, kein politischer und kein theologischer. Ausnahme und Wunder sind Achsenbegriffe und die politischen oder theologischen Verhältnisse, die sich um diese Achsen drehen, bleiben durchaus dieselben. Es verkehren sich lediglich die relativen Orte von oben und unten, von links und rechts, von Vorhut und Nachhut, von Fortschritt und Rückschritt. Der Ausnahmezustand ist das Wunder der Demokratie, worin nicht die Demokratie verschwindet, sondern ihre Redeweise sich dreht: von der Diskussion zur Diktatur. Diktatur ist nicht der Gegensatz zu Demokratie. „Diktatur ist der Gegensatz zu Diskussion.“ (80)

Mit der Diktatur, führt Carl Schmitt in seiner Schrift über Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus aus, sei die Herrschaft der Diskussion und damit des Parlaments ans Ende gelangt und die diktatorische Wende der Demokratie, die eine Wende der Redensart ist, vollbracht. Prinzip des Parlaments sei der Meinungskampf mittels Argument in öffentlicher Diskussion, nicht aber Verhandlung, nicht Kompromiß. Prinzip der Demokratie hingegen sei das allgemeine Stimmrecht, das, soll es willensbildend wirken, Homogenität, Ausschluß des Heterogenen, Einstimmigkeit und Zustimmigkeit (Akklamation) im Stimmvolk voraussetze. Das Volk der Demokratie und sein Wille sei aber niemals die Summe der Privatmeinungen der Einzelnen, sondern immer das öffentlich versammelte Volk. In dieser öffentlichen Versammlung, auf dem Thing, verschwindet die Privatmeinung und entsteht die gleichartige Volksmeinung, in der dann auch abgezählt werden kann.

Das innere Schwanken der Meinung nach dieser oder jener Seite, der schließliche Ausschlag zugunsten einer übergewichtigen Seite im Sinne der Mehrheitsmeinung, ist nur auf Grund der Homogenität der zahlfähigen Versammlung statthaft dergestalt, daß die Minderheit den Mehrheitsbeschluß als ihre eigene Entscheidung auffassen kann. Privatmeinungen sind nicht abzählbar; nur die Kopfzahl beliebiger Privatmeinungsträger ist abzählbar. „Es ist der in seiner Tiefe unüberwindliche Gegensatz von liberalem Einzelmensch-Bewußtsein und demokratischer Homogenität.“ (23)3

Mit dem Regierungsantritt des deutschen Nationalsozialismus erschien wenige Jahre später das praktisch, was Carl Schmitt 1926 theoretisch gezeigt hatte: der Ausnahmezustand als triumphale Wende der Demokratie von ihrer diskutierenden zu ihrer diktierenden Redeweise. Die Redensarten wechselten, nicht ihr demokratischer Inhalt. Inwieweit gewendeter Redeweise gewandelte Handlungsweise folgt, hängt vom Ethos des betreffenden Volkes und seinem gewohnten Zusammenhalt von Wort und Tat ab. Der Triumph der Demokratie in ihrer Wende ist zugleich ein Sieg der Homogenität und die Ausscheidung des Volksfremden. „Zur Demokratie gehört als notwendig erstens Homogenität und zweitens – nötigenfalls – die Ausscheidung oder Vernichtung des Heterogenen.“ (14) „Die politische Kraft einer Demokratie zeigt sich darin, daß sie das Fremde und Ungleiche, das Homogenität Bedrohende zu beseitigen oder fernzuhalten weiß.“ (14)

Nur bei substantieller Gleichheit kann das Prinzip der Wählermehrheit zum Parlament oder der Zustimmungsmehrheit des versammelten Volkes zu seinem Diktator den Gemeinwillen des Ganzen verkörpern; die arithmetische Mehrheit aus Deutschen und Türken besagt nichts über ihre Willensbildung, weder über ihre zwiesam gebildeten Willen noch über ihren gemeinsam gebildeten Willen

In Mitteldeutschland haben wir 1989/90 die Wende von der diktierenden Demokratie zur diskutierenden Demokratie erlebt. Die Mitteldeutschen haben diese Wende und die Vereinigung mit Westdeutschland, die nicht sein sollte, erzwungen; zur Strafe wurden sie von der parlamentarischen Regierung daraufhin Ostdeutsche genannt. Die jetzt anstehende Wende von der diskutierenden in die diktierende Demokratie ist in der Groß-DDR, welche die Arglosen für eine erweiterte BRD halten, ebenfalls streng verboten. Aber die politische Kraft der Groß-DDR ist noch bedeutend geringer als die der alten DDR, die es wenigstens verstand, Vollbeschäftigung und Homogenität aufrecht und das Fremde und Ungleiche fern zu halten.

In ganz Deutschland ist das demokratische Regime ein uneigentliches, weil es 1918 wie 1949 durch die fundamentale Inhomogenität fremdvölkischen Siegerwillens aufgezwungen wurde. Demokratie in Deutschland leidet also unter doppelter Seinsvergessenheit: unter Vergessenheit ihres eigenen Seins einer Volks- und Willenshomogenität durch die Voraussetzung der Fremdherrschaft und unter Vergessenheit des edlen Seins des deutschen Volkes, worin in Zeiten der Freiheit von Fremdherrschaft immer die Edlen herrschten. Demokratie dagegen ist die Herrschaft der Vielen, nicht der Besten.

Carl Schmitt ist ein überragend-zeitgemäßer Theoretiker der Demokratie. Aber wenn Demokratie eine Art für ein Volk ist, seinen Willen zu bilden und seinem so gebildeten Willen zu gehorchen und zur Selbstbeherrschung zu finden, so ist Demokratie zweifelsohne eine Art von Herrschaft. Wodurch diese Herrschaft aber politische Herrschaft wird, hat Carl Schmitt uns nicht verraten. Diese Frage, die über Sein oder Nichtsein des Systems der politischen Begriffe entscheidet, scheint ihm kein besonderes Anliegen gewesen zu sein.

Viel mehr bewegten ihn die Antriebe von Männern, die er als gleichrangig empfand, etwa „der Haß sozial deklassierter Genies, wie Baudelaire“ (87), auf die Bourgeoisie, oder „das tiefste Motiv des dämonischen Fleißes, mit dem Marx in die ökonomischen Fragen hineindrang“ (75). Baudelaires Poeten-Haß wie Marxens Theoretiker-Dämon dürfte Schmitt selber empfunden haben: die Erlangung des vollständigen richtigen Bewußtseins über Liberalismus und Parlamentarismus als Beweis ihres nahen geschichtlichen Endes. Schmitt über Marx: „Die Bourgeoisie kann das Proletariat nicht begreifen, wohl aber das Proletariat die Bourgeoise. Darum bricht über die Epoche der Bourgeoisie die Dämmerung herein; die Eule der Minerva beginnt ihren Flug, und das soll hier…heißen, daß…die untergehende Epoche das Objekt historischen Bewußtseins einer neuen Epoche geworden ist.“ (75) – Das Ende aber stiften die Denker.

Carl Schmitt hat das Problem von Legalität und Legitimität4 nicht gelöst. Vor der legalen Umsturzmaschine aus Gesetz, Verfassungsgesetz, Verordnung (motorisiertem Gesetz) und Anordnung (motorisierter Verordnung) hat er gewarnt. Das war ein Verdienst, aber keine theoretische Erledigung. Es war die Warnung vor der jüdischen Machtergreifung in allen Gesetzgebungsstaaten, die an sich aber schon geschehen war durch solcherart Staaten Dasein.

Die Lösung geht wie folgt: Legalität und Legitimität sind das Verhältnis von Gesetzlichkeit und Gesetzgeblichkeit (Maßgeblichkeit). Jedes gesetzte Gesetz ist das Gegebene eines Gesetzgebers. Dessen „Legitimation“ im Sinne von Rechtfertigung seiner Tat ist, daß er das Recht hat, das ihn dazu berechtigt. Die einzige Rechtfertigung ist also ein fertiges Recht, ob nun selber gefertigt oder vom Verfertiger durch Rechtsverkehr erworben, das zur Normenemission berechtigt. Daraus folgt: Jedes Recht berechtigt seinen Besitzer zur Gesetzgebung unter seinem Recht, sei es öffentlich oder privat. Das Recht selber ist die Rechtfertigung der Gesetzgebung, aber nicht das, was festgesetzt wird, nicht das Normierbare; nomierbar ist allein der Besitz oder die Macht oder der Dienst oder die Herrschaft, also die Naturalform des Rechts. Das Eigentum, die Verkehrsform eines Rechts, ist nicht normierbar. Also ist auch nicht das Recht normierbar und die Normenemission kann gerechtfertigt sein, muß aber nicht. Geltungsfragen können auf Normen nicht angewandt werden, nur auf Rechte. Ungültige Rechtsansprüche sind nichtige Rechte, also keine Rechte oder Unrechte. Weder Gesetzgeber noch Gesetz bedürfen der Rechtfertigung. Die legale Revolution mittels Gesetzgebungsmaschine ist integraler Bestandteil der technischen Revolution.

Im Schutze des Dritten Reiches wagt es Carl Schmitt, in der Schrift Über die drei Arten des rechtswissenschaftlichen Denkens (Hamburg 1934), den jüdischen Charakter des normativistischen Legalismus (Gesetzespositivismus) offen auszusprechen: „Es gibt Völker, die ohne Boden, ohne Staat, ohne Kirche, nur im ‘Gesetz’ existieren; ihnen erscheint das normativistische Denken als das allein vernünftige Rechtsdenken und jede andere Denkart unbegreiflich, mystisch, phantastisch oder lächerlich.“ (9f.) Den Juden wird Normativismus, den Romanen Dezisionismus und den Germanen konkretes Ordnungsdenken als arteigene rechtswissenschaftliche Schule zugesprochen. Aber weder Normdenken, noch Entscheidungsdenken, noch Ordnungsdenken ist Rechtsdenken, und wenn ein Volk ausschließlich im Gesetz existiert, dann ist dieses seine konkrete Lebensordnung. Die Welt des germanischen Mittelalters bestand aus Rechtssubjekten und ihren Rechten. Eine Ordnung ist jede Welt, die vom An-und-für-sich-Sein ihrer Bestandteile ausgeht; das gilt für das Recht der Germanen wie für die Natur der Dinge; sie bilden je eigene Ordnungen in ihren Welten, aus denen die Weltenordnung ersteht.

Daß die Naturaldifferenz Freund-Feind der wesentliche politische Unterschied und gar der Begriff des Politischen selber sei, das ist den gegenwärtigen Denkern des nationalen Lagers in Deutschland eine reine Selbstverständlichkeit. Auch folgt man der Vorstellung des Carl Schmitt, die er ebenfalls in seiner berühmten Schrift Der Begriff des Politischen von 1927 vertrat, alles könne politisch werden, wenn es eine bestimmte hohe, den Ausnahmezustand und die Existenz berührende Intensität erreiche und zur Daseinsfrage sich steigere.

Das riesige Gebiet der subexistentiellen politischen Fragen, insbesondere die der bürgerlichen Gesellschaft innewohnende Politik, wird vernachlässigt und dem volksvergessenen Soziologismus, der binnengesellschaftliche Verteilungs- und Normierungskämpfe gegnerischer bürgerlicher Einkommensklassen zum Antrieb der Weltgeschichte aufbauscht, überlassen. So verzerrt sich das eigene Menschenbild existentialistisch und nicht gesehen wird, daß wir (Gott sei Dank!) immer noch zum größeren Teil banausische Wesen und Idioten des privaten Lebens sind, die vorwiegend Kleinstentscheidungen fällen, Alltagsgeschäfte treiben und mit lebensläufiger Individualpolitik eine Alltagsgeschichte hinter sich bringen.

Ebenfalls im Jahre 1927 erschien Heideggers Sein und Zeit mit der berühmten Daseinsanalyse des „Man“, die das Gesellschaftliche meinte, aber nicht traf, weil sie das Politische verfehlte. Es hat den Anschein, beide Denker verfehlten es absichtlich, weil die bürgerliche Gesellschaft damals überpolitisiert war. Gegen Ende der Systemzeiten in Deutschland zeigt sich immer eine gesellschaftspolitische Überforderung des Staates und eine staatspolitische Überdrehung der bürgerlichen Gesellschaft. Die bürgerliche Gesellschaft ist jeder und niemand – das Man eben – und wie die Staatengesellschaft und alle sonstige Gesellschaft nicht entscheidungsfähig, weil kein Subjekt; Gesellschaft ist die mehr oder weniger beständige Ansammlung von Subjekten, seien es Einzelne oder Gemeinschaften. Wollen diese Subjekte nichts entscheiden und nicht handeln, berufen sie sich auf die Gesellschaft, das Man. „Das Man ist überall dabei, doch so, daß es sich auch schon immer davongeschlichen hat, wo das Dasein auf Entscheidung drängt. Weil das Man jedoch alles Urteilen und Entscheiden vorgibt, nimmt es dem jeweiligen Dasein die Verantwortlichkeit ab. Das Man kann es sich gleichsam leisten, daß ,man’ sich ständig auf es beruft. Es kann am leichtesten alles verantworten, weil keiner es ist, der für etwas einzustehen braucht. Das Man ,war’ es immer und doch kann gesagt werden, ,keiner’ ist es gewesen.“ (SuZ § 27)

Der Begriff des Politischen wird von Carl Schmitt eher verborgen als verfehlt. Der erste Satz klingt schon so, als wüßte er mehr, wenn er sagt: „Der Begriff des Staates setzt den Begriff des Politischen voraus.“ (20)5 – Sehr richtig! Der Staatsbegriff ist einer unter zahlreichen politischen Begriffen, aber nicht der Begriff des Politischen schlechthin; dies ist nämlich das Recht und die Person, das Subjekt der Rechte. Daß Carl Schmitt die Bestimmung des Begriffs des Politischen in Hegels Rechtsphilosophie und analog in Marxens politischer Ökonomie nicht gekannt haben sollte, ist auszuschließen. Eher ist anzunehmen, sie waren ihm zu protestantisch, zu kühl, zu unsinnlich.

Ich vermute, es hat ihn daran das gestört, was Hegel im § 4 der Rechtsphilosophie die „zweite Natur“ nannte; er wollte wohl mehr erste Natur in seine Politikauffassung hineinnehmen. Dafür spricht einerseits die gedankliche Vorbereitung seiner Freund-Feind-Unterscheidung, andererseits die schlaue Versicherung, er wolle mit der Freund-Feind-Unterscheidung nur „ein unermeßliches Problem theoretisch encadrieren“ (9). „Nehmen wir an“, schreibt Schmitt, „daß auf dem Gebiet des Moralischen die letzten Unterscheidungen Gut und Böse sind; im ästhetischen Schön und Häßlich; im ökonomischen Nützlich und Schädlich…. Die spezifisch politische Unterscheidung, auf welche sich die politischen Handlungen und Motive zurückführen lassen, ist die Unterscheidung von Freund und Feind.“ (26)

Durch Unterscheidung von Freund und Feind eines bestimmten Rechts einer gegebenen Person begreift diese ihre politische Lage6 : Das Opfertier im Angesicht seines Freßfeindes begreift seine Lage, aber die ist nicht politisch, sondern nur natürlich. Denn das Opfertier möchte zwar überleben, macht aber kein Recht auf Leben geltend. Carl Schmitt sucht das Politische des Feindes zu sichern, indem er ihn als öffentlichen Feind faßt. „Feind ist nur eine kämpfende Gesamtheit von Menschen, die einer ebensolchen Gesamtheit gegenübersteht. Feind ist nur der öffentliche Feind.“ (29) Hier fehlt aber die Bestimmtheit der politischen Öffentlichkeit, welche immer ein Forum ist. Jedes Forum ist ein Marktplatz von Rechten und Rechtssubjekten.

Schmittismus ist politischer Existentialismus. Er formt das Fronterlebnis zum juristischen Tatbestand: „Der politische Gegensatz ist der intensivste und äußerste Gegensatz und jede konkrete Gegensätzlichkeit ist um so politischer, je mehr sie sich dem äußersten Punkte, der Freund-Feindgruppierung, nähert.“ (30) Wer wohlunterschiedene Freunde und Feinde hat, der lebt sein Dasein entschieden erfüllter als jemand, dem das mangelt. Dem Freunde schulden wir Freundschaftsdienste, dem Feinde aber Feindseligkeiten. Ohne Feinde keine Ehre, ohne Sieg keine Seligkeit. In Feindseligkeit können wir sogar schwelgen. Die Suche nach Freunden und nach Feinden ist Erforschung des eigenen Wesen. Der Freund ist die Anlehnung an unser Wesen; der Feind ist die Ablehnung unseres Wesens. Im Spannungsfeld von Anlehnung und Ablehnung werden die Völker zu Lehnsleuten des Schicksals und erfahren, woher sie kamen der Fahrt, und wie ihr Nam’ und Art.

Günter Maschke hat in seinem Buch Der Tod des Carl Schmitt (Wien 1987) darauf hingewiesen, daß nach Carl Schmitts arcaner Überzeugung jeglicher Feindschaft die Erbsünde zu Grunde liege. Die Erbsünde ist der Verzehr der Frucht, die Gott am Baume der Erkenntnis wachsen ließ. Folge ist, daß Adam und Eva Gut und Böse unterscheiden können, also wohl auch Freund und Feind, denn Feindschaft zwischen der Schlange und dem Weibe ward zur Strafe von Gott gesetzt. Was aber ist, hat sich schon mancher Erkenntnisfreund gefragt, außer dem Übertreten des Gottesgebotes so erbsündig an der neugewonnenen Erkenntnis?

Die Früchte am Baume der Erkenntnis sind Erkenntnisse. Sie hängen dort in der Unverborgenheit, also in der Wahrheit (aletheia). Ihrer Natur nach sind sie unverbrauchliche Gebrauchsgüter. Diese Art Früchte kann der Verzehr dank ihrer ewigen Natur zwar nicht vernichten, aber verdunkeln; sie wandern aus dem Sein in den Schein, aus der Unverborgenheit in die Verborgenheit. Dem Menschen, in den Ungehorsam gefallen, begegnet die Wahrheit jetzt nicht mehr schlicht als Anschauung, sondern als etwas in seinem Inneren Verborgenes, und alles, was er sieht, ist Schein, dessen Sein er mit Mühe enthüllt. Aber der Fluch wirkt fort, jedes Sein ist ein neuer Schein, jede Entbergung fördert ein neu Verborgenes zu Tage.

Manchesmal erblickt er ein Durchscheinen der Wahrheit aus der Verborgenheit seines Inneren in Gestaltungen des Äußeren, und dieses ist dann das Schöne in Natur und Kunst. Oder der Mensch meint das Gute im Glauben und das Wahre im Wissen zu erfahren. Ganz ebenso wie das Schöne-Gute-Wahre führt die Feindschaft in die Abgründe der menschlichen Existenz, aber gerade nicht in das Reich des Politischen, nicht an das Licht der Erdoberfläche.

Das 20. Jahrhundert in Deutschland war der geistigen Schöpferkraft des Protestantismus eine Zeit der Erschöpfung. In diese riesige Lücke unseres Geisteslebens strömten drei große Katholizismen ein: der Schmittismus, der Hitlerismus und die Heideggerei. Wie der Staatsmann Bismarck gegenüber dem Staatsdenker Hegel, so war der Staatsmann Hitler gegenüber dem Staatsdenker Schmitt ein unvollkommener Verwirklicher: war bei Hegel nicht daran gedacht, dem Parlament die Gesetzgebung anheimzugeben, so bei Schmitt nicht, den Führer über das Recht zu stellen. Wohl sollte der Führer über dem Gesetz stehen, das Recht aber schützen. Schuld daran, daß nicht nur Gesetz außer Kraft gesetzt, sondern auch Recht gebrochen wurde, sind jene Normal-Juristen, die Recht und Gesetz nicht unterscheiden.

Zum Verhältnis des Heideggerschen Denkens zur Hitlerschen Politik ist zu sagen, daß der Philosoph weder den Hitlerismus noch die Konkretionshöhe von Recht, Politik und Staat denkerisch erreichte. In seiner Kritik der Technik hat er deren Wesen als freies, daher geschichtliches und verzwecktes Mittel nicht erfaßt. Insbesondere begriff Heidegger nicht, warum der Blut-und-Boden-Mythos nicht nur Ausdruck der sozialistisch-konservativen Zielrichtung der NSDAP war, sondern in der Tat auch die seelische Grundlage der technischen Revolution im Dritten Reich schuf, – einer Revolution, deren Ergebnisse die USA erbeutete und auf denen sie ihre Welthegemonie nach 1945 aufbaute.

Diese Epoche ist abgelaufen. Freundschaft und Feindschaft, Gut und Böse, Schön und Häßlich kehren sich um. Es kommt darauf an, allen Schmittisten – linken wie rechten, evangelischen wie katholischen – den wahren Begriff des Politischen in die Hand zu geben. Er ist das Ergebnis der vorläufig letzten Klassik deutschen Denkens und liegt in Hegels Rechtsphilosophie vor. Dort steht geschrieben: „Die philosophische Rechtswissenschaft hat…den Begriff des Rechts und dessen Verwirklichung zum Gegenstande.“ (§ 1) – „Die Rechtswissenschaft ist ein Teil der Philosophie. Sie hat…der eigenen immanenten Entwicklung der Sache selbst zuzusehen.“ (§ 2) -“Der Boden des Rechts ist überhaupt das Geistige, und seine nähere Stelle und Ausgangspunkt der Wille, welcher frei ist, so daß die Freiheit seine Substanz und Bestimmung ausmacht, und das Rechtssystem das Reich der verwirklichten Freiheit, die Welt des Geistes aus ihm selbst hervorgebracht, als eine zweite Natur, ist.“ (§ 4) – „Dies, daß ein Dasein überhaupt, Dasein des freien Willens ist, ist das Recht. – Es ist somit überhaupt die Freiheit, als Idee.“ (§ 29) – „Der an und für sich freie Wille…ist…in sich einzelner Wille eines Subjekts.“ (§ 34) – „…das Subjekt ist… Person“ (§ 35). – „Die Persönlichkeit enthält überhaupt die Rechtsfähigkeit…. Das Rechtsgebot ist daher: sei eine Person und respektiere die anderen als Personen.“ (§ 36) – „Das Recht ist zuerst …Besitz, welcher Eigentum ist“ (§ 40).

Mit der Erfassung und Zerlegung des Rechtsbegriffes hatte Hegel die geistesgeschichtliche Höhe erreicht, auf der Karl Marx mit einem geklonten Begriff – dem der Ware als einem Gut, welches Wert ist – die Verdoppelung der „Rechtsphilosophie“ zu seiner eigenen „Warenphilosophie“ gelang. Sie geriet zu einer Kritik der politischen Ökonomie wie Hegels Rechtstheorie zur Kritik der Juristerei. Die Kritik erreichte auf Irrwegen über Rußland, China und Südamerika das Jahr 1968, verschwand im sozialliberalen Karstgebirge, aber rechtzeitig vor 1989 erschien sie wieder als das System der Sozialwissenschaften7 .

II

Der griechische Privatgelehrte Panajotis Kondylis hat mit der schmittistischen Freund-Feind-Unterscheidung die Ideenhistoriographie umgestürzt. In zahlreichen Büchern, die fast nichts auslassen und von der Entstehung der Dialektik (1979) über die Autklärung (1981), den Konservati-vismus (1986) und bis zur neuzeitlichen Metaphysikkritik (1990) reichen, gelang ihm ein Siegeszug gegen die geistesgeschichtliche Interpretationsliteratur, der seinesgleichen sucht: Monument eines erstaunlichen Vernichtungswillens, dessen letztes Opfer Kondylis ist. So heißt es am Schluß seines theoretisch-verallgemeinernden Kurz-Buches Macht und Entscheidung (Stuttgart 1984): „Ich finde es aufregend und spannend, daß auf diesem Planeten die Materie oder die Energie, wie man will, zum Bewußtsein von sich selbst gekommen ist, daß es Wesen gibt, die in ihrem Machterweiterungsstreben den ,Geist’ in der ganzen Vielfalt seiner Formen und seiner erstaunlichen Spiele erzeugen und sich am liebsten mit Hilfe von Glaubenssätzen und Theorien gegenseitig vernichten. Solche Beobachtungen und Überlegungen können aber nur parasitären Feinschmeckern Anlaß zu spekulativen Genüssen bieten. Immerhin bilden sie in keinem Fall zwingende Argumente gegen den Selbstmord aus Langeweile.“

Unter Geisteshistorikern gibt es zwei Typen: die Interpretationsvermehrer und die Interpretationsvernichter. Kondylis gehört zu letzteren. Bei Kondylis schießt der Schmittismus ins Kraut der Geistesgeschichte und triumphiert sich zu Tode. Seine These lautet: die ganze Geistesgeschichte folgt polemischen Bedürfnissen und ist nur zu verstehen aus der jeweiligen Lage von Freund und Feind der sozialpolitischen Machtansprüche des Autors und der hinter ihm stehenden gesellschaftlichen Kräfte. Diesen Schonkost-Marxismus hält Kondylis für eine politische Betrachtung der Geistesgeschichte, kann aber nicht Recht und Gesetz und kein Macht-verhältnis von einem Rechtsverhältnis unterscheiden.

Bei Kondylis löst sich alles in Kampf auf, er liefert Literatur aus der Sparte des heroischen Nihilismus und treibt die Auflösung aller Dinge bis in die letzten Schlupfwinkel der europäischen Geistesgeschichte hinein. Wer gern Kriegsgeschichte liest, den wird die Geistesgeschichtsschreibung in der Art von Kondylis gut unterhalten, aus Stahlgewittern kommend, in Gedankenblitzgewittern endend. Nirgends sieht der Autor Ordnung und System, überall nur Feindschaft und Kampf. Unbeabsichtigt enthüllt er das bellizistische und nihilistische Wesen eines jeden Historismus. Das ist zwar nicht neu, man wußte es eigentlich schon immer, aber die konsequente Vermeidung jedes eigenen Gedankens und die alleinige Verwendung der Freund-Feind-Unterscheidung ist in dieser Ausschließlichkeit noch nicht dagewesen.

Bei jedem Kampf, auch in den Florettgefechten des Geistes, wird nähere Betrachtung zeigen, daß jede kämpfende Partei möglichst alle erreichbaren Waffen und Taktiken anwendet. Kondylis hat das nun auch bei den Geisteskämpfern entdeckt, ohne zu erkennen, daß jeder Kombattant um die Gelegenheit kämpft, eine ganze Ordnung oder ein ganzes System auf Dauer oder gar auf Ewigkeit zu errichten, keinesfalls also (oder nur ausnahmsweise von Verzweifelten) der Kampf um des Kampfes willen gesucht wird. In einem funktionierenden System ist der alte Feind vernichtet und seine innere Feindschaft auch künftig nicht zu befürchten; an seine Stelle tritt äußere Feindschaft und es beginnt der Wettkampf der Systeme. In einer Ordnung hingegen hat der Kampf seine Kampfstätte, der Widerspruch seine Bewegungsform in der Ordnung selber gefunden.

In Florettgefechten können durchaus konservative, liberale oder revolutionäre Fechtstile unterschieden werden: die einen glänzen in der Parade, die anderen in der Finte, letztere im Ausfall. Aber selbstredend muß jeder Fechter alle Fechtbewegungen vollziehen, um im Gefecht zu stehen. Diese schöne Entdeckung macht Kondylis, wenn er z.B. fast jedem konservativen Denker liberale, sozialistische, anarchistische oder etatistisch-absolutistische Gedanken nachweist. Ärgerlich wird nur die nihilistische Anmaßung, die jeden Gegenstand verleugnet, wenn sie ihn zum verschwundenen Geschichtsphänomen erklärt.

Der Konservativismus hat zu allen Zeiten den Produktionsfaktor Boden geistig repräsentiert. Dieser Faktor hatte nicht nur die Gestalt des Adels zu Zeiten der alteuropäischen societas civilis, sondern auch die des römischen Imperialismus, der katholischen Gegenreformation, der kommunistischen Bodenreform, der Zwangskollektivierung der Landwirtschaft, der Anti-Atomkraft-Bewegung und des Sturmes auf Asylantenheime. Als systematische Kategorie des Verteilungs- und Verbändekampfes im ausgebildeten – nicht mehr bloß werdenden und kämpfenden – Kapitalismus steht der Konservativismus gegen den Liberalismus, gegen den Sozialismus und gegen den Konsumismus. Konservativismus ist politisch-ideologisch der Repräsentant des Produktionsfaktors Boden, Liberalismus des Faktors Kapital, Sozialismus des Faktors Arbeitskraft und Konsumismus ist der politische und ideologische Darsteller des Konsumgüterfaktors.

Der Konservativismus steht gegen Liberalismus, Sozialismus und Konsumismus, weil er sich in sie, in den von ihnen repräsentierten Produktionsfaktor, verwandeln muß, und er muß ihre Gestalt annehmen, um sich wieder in sich selbst verwandeln zu können, und dieser Gestaltwandel geht endlos, solange das kapitalistische System besteht.

Der Konservativismus verkörpert nicht nur ökonomische, sondern auch politische und geistige Immobilien; seinen Vertretern fällt es besonders schwer, den Klassencharakter und die Mobilität ihres Faktors zu verstehen und besonders die Tatsache des Kreislaufes durch alle anderen Faktoren wahrzunehmen. Der Konservativismus vollzieht so wie Sozialismus, Liberalismus und Konsumismus durchaus immer wieder den selben Gestaltwandel und nimmt im gleichen Kreislauf nur verschiedene Punkte zum Anfang und Ende seiner jeweiligen Betrachtung. Es ist ein vergleichbarer Unterschied der bloßen Betrachtung eines Kreislaufes, der zwischen Geldkapital, Warenkapital und produktivem Kapital obwaltet.

Nun wird auch verständlich, warum es konservativen Autoren immer ein Leichtes war, liberalistische und sozialistische Denkfiguren zu übernehmen und zu ihrem geistigen Eigentum zu erklären: sie hatten es im Meinungsaustausch redlich erworben, es war nur die verwandelte Gestalt ihrer Immobilmeinung. Jeder Produktions-, Rechtsbildungs- und Meinungsbildungsfaktor kann sich revolutionieren, folglich ist eine Konservative Revolution als politisches Konzept genauso möglich wie Liberale Revolution oder Sozialistische Revolution. Die Revolution eines Faktors ist dessen Umkehrung, entweder aus der allgemeinen Veräußerlichkeit in die gänzliche oder teilweise Unveräußerbarkeit, oder umgekehrt. Dies ist das Grundmuster einer jeden Revolution, die aus den Faktoren der bürgerlichen Gesellschaft eines Volkes entsteht: der Faktor soll gänzlich oder teilweise veräußerlich oder unveräußerlich sein, damit jeder Klassen- oder Volksgenosse allezeit ein Konservativer, Sozialist, Liberalist oder Konsument werden oder bleiben könne.

Und so muß man die bürgerlichen Gesellschaftsfaktorenrevolutionen unterteilen in Veräußerbarkeitsrevolutionen und Unveräußerbarkeitsrevolutionen, und diese noch einmal in Klassenrevolutionen und in Volksrevolutionen, und das in allen vier Faktoren. Die bürgerliche Gesellschaft eines Volkes kennt also sechzehn Revolutionsarten. Wird die bürgerliche Gesellschaft in die sozialen Subsysteme der Rechte, der Waren, der Meinungen und der Objekte unterschieden, erhält man 64 bürgerliche Revolutionsarten.

Revolutionsbeispiele sind: Solons Verfassungsreform in Athen, die den Politen das Recht nahm, sich selber in die Schuldsklaverei zu veräußern und ihre Gesamtarbeitskraft unverkäuflich machte, die ihnen nur zeit- und teilweise vermietbar blieb: sozialistische Teilvolksrevolution; oder der Fideikommiß als konservative Feudalklassenrevolution der Unveräußerbarkeit; oder die öffentliche Suppenküche und das Obdachlosenasyl als Volksrevolution eines unveräußerbaren Mindestkonsums; oder die Freigabe des Devisen- und Kapitalverkehrs als liberale Klassenrevolution; oder das Recht auf Arbeit als sozialistische Volksveräußerungsrevolution; oder das Grundrecht als Recht jedes Staatsbürgers auf einen unveräußerlichen Mindestbesitz an Grund und Boden (Art. 3(1) RVerfE, Staatsbriefe 1/92): konservative Volksrevolution. Letztere ist die begriffliche Einlösung jener vagen Vorstellungen, die die Autoren der Konservativen Revolution in Deutschland in Umlauf gesetzt haben. Ihrer praktisch-politischen Verwirklichung kam der Hitlerismus mit seinen Siedlungsplänen für Osteuropa nahe. Ohne begrifflich saubere Lösung unternommen, verletzte die praktische Annäherung Rechte fremder Völker und führte in den Untergang.

Vorform des Schmittismus ist die Max-Weberei, und als Max-Weber-Schüler hatte Carl Schmitt auch begonnen. Max Weber faßt zwar nicht das Recht als Basisbegriff zum Staat, wohl aber den Rechtsverkehr, also den Vertrag, als Grundlegung der ‘rationalen’ Herrschaft, die durch diese Begründung tatsächlich politische Herrschaft ist. Weber redet in diesem Zusammenhang auch von rational-bürokratischer oder ‘legaler’ Herrschaftsbeziehung, was auf die Selbigkeit von Rationalismus und Normativismus verweist; der Vertrag verschafft das Recht, dessen Naturalform normiert werden kann; der Vertrag ist Rechtfertiger der legalen Herrschaft. „Die Geltung des ‘Vertrages’ als Basis stempelt den kapitalistischen Betrieb zu einem hervorragenden Typus der ‘legalen’ Herrschaftsbeziehung.“ (552)8

Die Analogisierung von (legal-rationaler) Herrschaftsbeziehung und Kapitalverhältnis ist Max Webers bedeutendste theoretische Leistung. Die revolutionären Potenzen von Kapitalismus und Etatismus sucht er mit dem Terminus „charismatische Herrschaft“ zu fassen. An der Spitze eines kapitalistischen Betriebes wie des staatlichen Anstaltsbetriebes will er keinen Bürokraten, sondern eine charismatische Persönlichkeit sehen. Er glaubt an die unaufhaltsame Bürokratisierung und vergleicht ihren Vormarsch mit dem der „Präzisionsmaschine in der Massengüterbeschaftung“ (129). Max Webers Analogie von bürokratischem Apparat und kapitalistischer Maschinerie ist sehr richtig, ohne daß er beider Naturalformen Ursache und Entwicklung sowie Wirkung auf die Verkehrsformen dargelegt hat. Auch in der Bestimmung verschiedener Staatsordnungen nach dem Verhältnis der Verwalter zu den sachlichen Verwaltungsmitteln (831) zehrt Weber theoretisch von Marx.

Den seit Schopenhauer im deutschen Denken eingetretenen Verlust des Politikbegriffes hat Max Weber pedantisiert. Er unterscheidet den soziologischen vom juristischen Rechtsbegriff: juristisches Recht sei das, was laut Gesetz gelten soll, soziologisches Recht aber das, was in Wirklichkeit sich Geltung verschaffe. Unter Recht versteht er eine Zwangsordnung, gebunden an „die Existenz eines Erzwingungs-Stabes“ (18). „Alle politischen Gebilde sind Gewaltgebilde“ (520) und alle Politik ist „Streben nach Machtanteil“ (830), glaubt Max Weber. Er hat den Rechtsbegriff durch „Soziologisierung“ zum Verschwinden gebracht und den Politikbegriff in der Sackgasse der Gewaltdefinition verenden lassen. Max Weber hat durch die Zwangs- und Gewaltfixierung seine Auffassung von Recht und Politik zu einem Wegweiser in die antipolitische Gewaltherrschaft gemacht, die den Brückenkopf bot dem gegengeschichtlichen Nomadensturm der Moderne.

Der Zusammenbruch des Rechts- und Politikbegriffes wurde zuerst in der unpolitischen Ökonomie der Wiener Schule manifest, als Carl Menger sein die Grenznutzenlehre begründendes Werk9 nicht etwa mit einer Warenphilosophie eröffnete, sondern mit einer allgemeinen Lehre vom Gut. Damit begann der gefällige Stil des soziologischen Denkens, die subjektive Überschreitung des erreichten Ideals: der romantische Zusammenbruch der Klassik. Die Romantik wird dann sehr schnell vom Rationalismus abgelöst; von der Güterlehre ist nur ein kleiner Schritt zur Güternormenlehre und damit zum Normativismus und Positivismus. Die gleichen Erscheinungen finden wir im juristischen Bereich, der die Besitz- und Verfügungslehre rationalisiert, und im psychologisch-theologischen Gebiet, das weltliche wie geistliche Bedürfnisse normiert und neu emittiert. Diese rationalistischen Revolutionen der Normierung sind technische Revolutionen und gesellschaffliche Verwüstungen zugleich.

Kein Denker der Konservativen Revolution ist von dieser technischen Verwüstung des politischen Denkens speziell wie des gesellschaftlichen Denkens generell ausgenommen. An der politischen Demoralisierung des deutschen Volkes tragen sie alle ihr gerüttelt Maß an theoretischer Schuld. Carl Schmitt behauptet steif und fest: „Die Epoche der Staatlichkeit geht jetzt zu Ende. Darüber ist kein Wort mehr zu verlieren.“ (10) Und weiter geht es mit schändlicher Entmutigung: „Die Zeit der Systeme ist vorbei. Als die Epoche der europäischen Staatlichkeit ihren großen Aufstieg nahm, vor dreihundert Jahren, sind herrliche Gedankensysterne entstanden. Heute kann man nicht mehr so bauen.“ (17)

Der ärgste Demoralisierer und Fehlsteuerer des deutschen Denkens in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist Oswald Spengler. Nicht zufällig hatte der gescheiterte Hamburger Studienrat sich den Haß der Jugend zugezogen; sie verkörpert doch stets die Wiederauferstehungsfähigkeit eines Volkes und einer Kultur und möchte nicht in den Untergang des Abendlandes hineinerzogen werden. Kaum hatte Spengler seinen Imponierschinken als Verkaufsschlager gelandet und den globalen Imperialismus der Verfallszeit propagiert, schon fühlte er sich in den desperaten Wirtschaftskreisen der Weimarer Zeit am rechten Platz und legte nach außen und unten ein überhebliches Oberschichten- und Imperatorengehabe an den Tag.

Spengler belächelt das Sacrum Imperium (3)10 und fordert das Imperium Mundi (16), denn in Schwächezeiten blüht der Größenwahn. Er denkt vulgärmarxistisch nur in Produktivkräften, nicht auch in Produktionsverhältnissen. Nur „der Wille des Stärkeren, die gesunden Instinkte, die Rasse, der Wille zu Besitz und Macht“ (4) machen für Oswald Spengler den Geschichtsgang aus; selbst Gerechtigkeit und Friede sind ihm bloße Träume. Die Form hochkultureller Geschichte ist ihm der Krieg, und vom Frieden sagt Spengler, er sei die Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln (24). So wie der beschimpfte Pazifismus den Krieg nicht denken und daher den Frieden nicht erobern kann, so gewinnt das Spenglersche Denken keinen Krieg, weil es den Frieden, den nur die Gerechtigkeit zeugt, nicht begreift. Der Bellizismus ist der eineiige Zwilling des Pazifismus, von dem er schon im Mutterleibe der Dummheit, im apolitischen Denken, immer getreten wurde.

Der deutsche Kriegsheld und Schriftsteller Ernst Jünger beschreibt den Arbeiter als übergeschichtliche Gestalt. „Die Geschichte bringt keine Gestalten hervor, sondern sie ändert sich mit der Gestalt. Sie ist die Tradition, die eine siegreiche Macht sich selbst verleiht.“ (26)11 Die bürgerliche Gesellschaft zersetzt sich in Planquadrate und wird ihm Kriegsschauplatz der Arbeit. „Die Technik ist die Mobilisierung der Welt durch die Gestalt des Arbeiters“ (190), sie ist die Uniform des Arbeiters und „das unbestreitbare Mittel der totalen Revolution“ (169). Auch auf diesem Schlachtfeld zeigt Ernst Jünger sich als Held, weil er kein Marx-Gegner, sondern ein Marx-Einverleiber (316) sein will. Wie Oswald Spengler, der Technik als Lebenstaktik eines Raubtieres12 faßt, zieht Jünger rein imperialistische Schlüsse: „Das Ziel…besteht in der planetarischen Herrschaft als dem höchsten Symbol der neuen Gestalt.“ (306) Die Vaterländer der Völker werden zu „Planlandschaften“, die vor dem „Eintritt in den imperialen Raum“ (306) erprobt und gehärtet werden. Solcherart Konzepte stellten sicher, daß auch der nächste Krieg trotz vieler Helden verlorenging, zumal das Eigentum lediglich nach seinem Beitrag zur Totalen Mobilmachung bewertet (288) wurde.

Der Verrat an Recht und Politik, die geistige Kapitulation vor der Technik und damit die Barbarisierung als Rückfall auf die bloße Naturalform, läßt sich außer bei Spengler und Jünger auch bei den übrigen Autoren der Konservativen Revolution beobachten. Bei Spengler und Jünger liegt das Elend ihres Denkens in einer theoretischen Verausländerung in westlicher Richtung; beispielgebend ist ihnen der römische Imperialismus und seine Aktualisierung durch die Kolonialmächte Frankreich und England sowie den amerikanischen Imperialismus des Kapitalexports und der kapitalen Schläge. Zum außenpolitischen Verhängnis wurde dieses Denken in Hitlers Anglophilie.

Es gab auch den hegelianischen Versuch Hans Freyers, den Staat vom Geist her zu denken und wiederaufzurichten. „Der Staat“, so seine These 1926, „ist der Geist am Ziel, ist die Kultur als vollkommenste Verwirklichung ihres Sinns.“ (20)13 Erst postuliert er den Staat als Ziel des Geistes, um wenige Seiten später zu behaupten: „Der Geist ist immer am Ziel.“ (25) Des weiteren bestimmt er Gestalten als sinntragende Gegenstände (21), sieht sie also rechts- und warenförmig; ferner unterscheidet er Gebilde, Geräte und Zeichen, also eigensinnige, fremdsinnige und sinnzeigende Formtypen. Freyer versäumt, aus diesen Elementen einer Staatslehre eine neue Theorie zu bauen. Auch einige Jahre später liefert Freyer weder Bau noch Grundriß einer neuen Theorie, auch wenn er genau weiß, auf welchem Boden sie zu errichten wäre: „Hegels Philosophie des Rechts, genauer: ihr dritter Teil, die Lehre von der Sittlichkeit, ist der Ursprung der deutschen Soziologie.“ (213)14

Ferdinand Fried, der ab 1929 in Hans Zehrers Tat das Ende des Kapitalismus beschwor, redete vom Kampf zwischen Staat und Wirtschaft, zwischen freier Wirtschaft und Planwirtschaft, schrieb von Baumwoll-, Maschinen-, Dampfschiff-, Eisenbahn-, Banken-, Chemie-, Elektrizitäts- und Benzinmotorära (14)15 . Die Periodisierung nach Naturalformen in Prozessen und Produkten führt zu einem Kategorienchaos, das selbst die Ordnung der Güter wie der Herstellungsvorgänge unmöglich macht und in willkürlichen Etikettierungen landet. Ohne Logik des Arbeitsprozesses gibt es keine wirtschaftliche Naturalformenlehre, ohne Warenanalyse keinen Geldbegriff und keine Kapitallogik, also insgesamt keine wirtschaftliche Verkehrsformenlehre. Fried deutete die weitere Entwicklung so: „An die Stelle der Nationalökonomie kommen wieder die Staatswissenschaften.“ (23) Die wirkliche Entwicklung ist aber zum Ruin beider fortgeschritten, und beide müssen also Bestandteile eines Gesamtsystems der Sozialwissenschaften sein.

In der Nachkriegszeit setzt sich diese begrifflose Vermischung von allem und jedem in der geflügelten Redeweise vom Staat der Industriegesellschaft fort. Industrie ist nur noch technisch produktiver und technisch administrativer Gesamtkomplex der Gesellschaft. Ernst Forsthoff pflegte Erinnerungen an den Staat und sagte vom BRD-Staat: „Seine Stabilität ist von der Industriegesellschaft entlehnt.“ (57)16 Solche begrifflosen Pauschalitäten haben in der späten BRD den Habermäusen und Luhmännern den öffentlichen Raum erst abgetreten.

Bevor noch der erste Schuß fiel, hatte Deutschland auch den II. Weltkrieg geistig schon verloren. Carl Schmitt gab zwar sein Bestes, stand aber im falschen Planquadrat, auf Seiten der katholischen Beschleunigung. Jene Autoren, die auch nach dem Jahre 1945 westdeutsche Berühmtheiten wurden, hatten schon 1933 vor dem westlichen Imperialismus kapituliert. Oswald Spengler hätte als Unternehmensphilosoph der Deutschen Bank oder jedes anderen multinationalen Konzerns eine passende Figur abgegeben. Es gab ja auch eine Gruppe um Ernst Niekisch, die geistig vor dem Osten kapituliert hatte, und nach 1949 haben sich Westler und Ostler auftragsgemäß gestritten, wobei die Westler sich (Carl Schmitt dixit) dadurch hervortaten, daß sie als Lackstiefellecker die Filzstiefellecker so richtig schön verachteten. Daß der ehrwürdige Greis Ernst Jünger im Alter von 98 Jahren den Herren Kohl und Mitterand zur Verzierung sich hergibt, ist tragisches Sinnbild der geistigen Ohnmacht jener deutschen Dichter und Denker, die im Banne der beiden Weltkriege standen.

Weil die deutschen Denker nicht rechtzeitig die Moderne vernichteten, hätte Deutschland den Kampf des 20. Jahrhunderts auch dann verloren, wären die Waffengänge glücklich ausgegangen. Nicht der deutsche Soldat trägt die Schuld der Niederlage, sondern der deutsche Denker. Jedem geschichtlich nachhaltigen Sieg der Waffen eines Volkes geht der Sieg seiner Gedanken voran. Dieser Doppelsieg erst ist jener Triumph eines Volksgeistes, der ihn zum Weltgeist erhebt.

Ideologische Fremdmächte des In- und Auslandes schlagen ununterbrochen auf jeden deutschen Gedanken ein, um deutsches Denken zu verhindern. Deutsches Denken, wie es zuletzt im Deutschen Idealismus klassisch auftrat, erfaßt das Ganze als das Wahre. Der deutsche Denker begreift Gott und die Welt, und das Deutsche Reich dient Gott, indem es die Welt ordnet. Und dies vollbringt es durch das Beispiel seiner Eigenordnung. Die innere Ordnung des Deutschen Reiches wird das Muster abgeben, das die sondergermanischen Völkerschaften und Volksgruppen rund um die Welt zur Nachahmung und zur Anwendung auf die jeweils besondere Lage befähigt. So wird der globale Schrecken gewaltbegründeter Weltherrschaftssysteme, wird Nomadismus, Imperialismus, Kapitalismus und Kommunismus gebannt.

Eine der ideologischen Fremdmächte ist die Frankturter Schule als nationaljüdische Einrichtung in Deutschland. Walter Benjamin war vor dem Kriege ihr politischer Denker, und Hilde Benjamin setzte ihn nach 1949 in politische Taten um. Unter der Tarnung einer Kritik der Gewalt postuliert er das Kernideologem einer jeden Usurpation: rechtsetzend oder rechtserhaltend sei nur die Gewalt. (40)17 Wußten zwar die deutschen Denker dieses Jahrhundert nicht so richtig, was eigentlich sie verteidigen oder rückgewinnen sollten, so kannte der jüdische Denker Walter Benjamin sein Angriffsziel sehr genau: das Recht. Er weiß, daß „eine Anfechtung der Todesstrafe nicht ein Strafmaß, nicht Gesetze, sondern das Recht selbst in seinem Ursprung angreift“ (42).

Walter Benjamin erkennt, daß sein Volk das Recht selber zum Feind hat, den es in die Hand bekommen und für immer vernichten muß: „Denn in der Ausübung der Gewalt über Leben und Tod bekräftigt mehr als in irgendeinem andern Rechtsvollzug das Recht sich selbst.“ (43) So gefährlich, ermutigt er seine Leute, sei das Recht garnicht, vielmehr sei „irgend etwas Morsches im Recht“. Nur müsse man mit dem Verstand „die Kritik der rechtsetzenden wie der rechtserhaltenden Gewalt zum Abschluß bringen“.

Sodann geht Walter Benjamin forsch zum Angriff über und erklärt die Polizei zu einer „weit widernatürlicheren“ Vermischung von rechtsetzender und rechtserhaltender Gewalt als die Todesstrafe: „Das Schmachvolle einer solchen Behörde…liegt darin, daß in ihr die Trennung von rechtsetzender und rechtserhaltender Gewalt aufgehoben ist.“ (43f.) Das Recht erscheine in „zweideutiger sittlicher Beleuchtung“ (45), der Betrug dürfte eigentlich nicht bestraft werden, weil gewaltlos, denn auch die gewaltlose Lüge sei ja straffrei. Benjamin übersieht die ernsten Rechtsfolgen, die jede offenbar gewordene Lüge unerachtet ihrer strafgesetzlichen Folgenlosigkeit hat.

Benjamin propagiert den Sorelschen Generalstreik, der weder rechtsetzend noch rechtserhaltend sei, sondern anarchistisch (52). Benjamin will auf Jahwes Gewalt hinaus und verwirft alle rechtsetzende als mythisch. „Ist die mythische Gewalt rechtsetzend, so die göttliche“ (nach der Religion des geoffenbarten Gesetzes) „rechtsvernichtend, setzt jene Grenzen, so vernichtet diese grenzenlos, ist die mythische verschuldend und sühnend zugleich, so die göttliche entsühnend, ist jene drohend, so diese schlagend, jene blutig, so diese auf unblutige Weise letal.“ (59)

Diese Art „göttlicher“, nationaljüdischer Gewaltanwendung glänzt „durch die Abwesenheit jeder Rechtsetzung“ (60). Diese Gewalt steht „als erzieherische Gewalt in ihrer vollendeten Form außerhalb des Rechts“, und ist natürlich „auch vernichtend zu nennen“, aber „nur relativ, in Rücksicht auf Güter, Recht, Leben und dergleichen“ (60). Versteht sich auch, daß aus dem mosaischen Soll-Gesetz „Du sollst nicht töten!“ nichts Zwingendes für Mörder folgt: „Aus ihm“ (dem Gebot) „folgt über diese“ (die Mordtat) „kein Urteil. Und so ist denn im vorhinein weder das göttliche Urteil über sie abzusehen noch dessen Grund. Darum sind die nicht im Recht, welche die Verurteilung einer jeden gewaltsamen Tötung des Menschen durch den Mitmenschen aus dem Gebot begründen.“ (61)

Walter Benjamin räumt damit einer das Recht vernichtenden Rebellion die Tötungsgewalt ein, und Hilde Benjamin hat von dieser Erlaubnis mitten in Deutschland reichlich Gebrauch gemacht. Beide waren erfüllt von ihrem Auftrag zu „heiliger Vollstreckung“ (64) an allen Völkern der Welt, an die nur das eingebildet-auserwählte und real-verworfene Volk glauben kann, das im Arsenal seiner politischen Theologie das Völkermordgebot bereithält (vgl. „Nomadologie oder Das Gesetz der Moderne“, in: Staatsbriefe 8-9/91).

Anders als Hilde Benjamin, die sich (als DDR-Justizministerin) im physischen Abschlagen deutscher Köpfe bewährte, tat sich Theodor Adorno alias Wiesengrund (als Frankfurter Soziologieprofessor) in der geistigen Vernichtung deutscher Köpfe hervor. Gegen die philosophischen und sozialwissenschaftlichen Jungakademiker in Deutschland hat er sein diabolisches Werk der Minimalmoral und der negativen Dialektik18 , einer „Logik des Zerfalls“, an der er, wie er uns verrät, schon seit dem Jahre 1937 arbeitete, in Stellung gebracht, um die Fähigkeiten der deutschen Nachwuchsdenker, ihre Gedanken in Systeme und Ordnungen zu bringen, nachhaltig zu zerrütten.

Mit dem berüchtigten Diktum, das Ganze sei das Unwahre, der Verkehrung des Hegelschen Satzes, versuchte Adorno nichts weniger als den Sturz des gesamten deutschen Denkens, die Beseitigung seiner Selbigkeit und die Machtergreifung des Nichtidentischen, also des Jüdischen. Jener verzweifelte und hoffnungslose Teil der linksliberalen Intelligenzija in der Westzone, der Adornos Philosopheme, die nichts weiter als messianische Theologumena19 sind, übernahm, steht heute buchstäblich vor dem Nichts, das nach Adorno nicht genichtet, also nicht positiviert werden darf.

Adorno ist der Denker der ungenichteten, unerlösten Nichtse, die den Abfall der Genesis darstellen und im Dies- wie Jenseits nomadisieren. Dagegen ist in der deutschen Philosophie Dialektik die Logik der Negationen. In der Hegelschen Hochform der Dialektik ist die Operation der Nichtung der Gegenstand der Operation; sie ist autonome Negation, also die Nichtung des Nichts, das keine Position und kein Etwas benötigt (wie Dieter Henrich 1976 in seiner Abhandlung über Hegels Grundoperation gezeigt hat). Denken dieser Art ist Adorno unbegreiflich: „Der Gedanke, der kein Etwas denkt, ist keiner.“ (382)20 Was ihm bleibt ist das Niederziehen des Hohen und eine aparte Auschwitz-Metaphysik: „Kein vom Hohen getöntes Wort, auch kein theologisches, hat unverwandelt nach Auschwitz ein Recht.“ (358) Dem Niederziehen des Hohen folgt die Entrechtung hochstehender Menschen, die Vermüllung ihrer Kultur; das Identische wird zu dem erklärt, was das Nichtidentische schon ist, nämlich Abfall: „Alle Kultur nach Auschwitz, samt der dringlichen Kritik daran, ist Müll.“ (357) Auch die deutschen Kulturkritiker entgehen also nicht dem adornitischen Müllberg.

Daß deutsche Studenten 1968 Adornos Institut unter Führung des SDS-Cheftheoretikers Hans-Jürgen Krahl besetzten, der Adornos Denken das endgültige Urteil der bloß abstrakten Negation sprach, die sich „dem Erfordernis der Bestimmtheit der bestimmten Negation verschlossen“19 habe, bleibt eine geistesgeschichtliche Tat. Der SDS provozierte Adorno, die Polizei zu rufen und also die Waffen der Kritik zu strecken; bei einem Vortrag in Berlin wurde Adorno grob und schlagend aufgefordert, sich gefälligst alleine zu Tode zu adornieren. Zwei Wochen später war er tot.

Die Tötung Adornos durch seine deutschen Studenten, ganz geistesritterlich ohne Waffen und allein durch Kritik, war das wichtigste Ergebnis der 68er Studentenbewegung. Die Tötung Adornos war für den deutschen denkerischen Nachwuchs eine Befreiungstat, deren nationalpolitische Bedeutung das durch Russenfurcht und Amerikagläubigkeit demoralisierte, in der rechten Ecke verzurrte nationale Lager nicht erkannte. Anfang der 70er Jahre gab es einen deutschen Theorienfrühling, alles sollte jetzt neu abgeleitet werden: die sozialen Klassen und der Klassenkampf, der Weltmarkt und die Weltmarktkonkurrenz, das Recht und der Staat, das Bewußtsein und die Ideologie; und die kühnsten Theoretiker wagten, selbst Gott neu zu deduzieren. Und dies alles aus semitischer Hand wie vormals den Aristoteles, dies dank Marx, durch den die Deutschen wieder Zugang zu ihrem eigenen spekulativ-systematischen Denkstil fanden. Die Debatte konzentrierte sich schließlich auf die Wertformenlehre im ersten Kapitel des Marxschen Hauptwerkes, weil hier, in der Gelddeduktion, das Geheimnis der Staatsableitung verborgen lag, und ein Gottesbeweis obendrein.

Mein eigener Beitrag „Deduktion des Staates“ (Theorie und Klasse, Heft 8, 4/75) brachte die Debatte auf geheimnisvolle Weise zum Verstummen; die Protagonisten dieser deutschen Denkanstrengung verschwanden wieder in der Namenlosigkeit und die Öffentlichkeit begann zu glauben, Adorno und Habermas (der am 6. Juni 1967 Dutschkes Aktionstaktik nicht ganz zu Unrecht als linken Faschismus bezeichnet hatte) seien die Vordenker der 68er Studentenbewegung gewesen. Allein der Norweger Johan Galtung hatte begriffen, daß die kurze Marx-Renaissance nach 1968 der Versuch junger Deutscher war, sich von der geistigen Vorherrschaft des angelsächsischen Denkstils zu befreien; bei diesem Versuch gab Das Kapital von Karl Marx das Muster des teutonischen Denkstils ab, der ein ganzes System aus einem einzigen Grundbegriff deduziert (Leviathan 3/83).

Rudi Dutschkes nationale Wendung folgte Ende der 70er Jahre. Er stach öffentlich in das Wespennest westdeutscher Heuchelei, als er die nationale Frage aufwarf: „Wer hat Angst vor der Wiedervereinigung?“ Den Sowjetismus hat er mit einer einzigen Definition theoretisch exekutiert, über ein Jahrzehnt vor dessen praktischer Selbsthinrichtung: allgemeine reale Staatssklaverei. Den letzten klassentheoretischen Zugang zur nationalen Frage versuchte ich 1981 im nationalanarchistischen Manifest. Dann obsiegte der Nationalneutralismus und wurde von den Burschenschaften und einer Vielzahl aus dem deutschen Volksboden aufsprießender nationaler Bürgerinitiativen übernommen. Die Carl-Schmitt-Falle schnappte zu: die SPD-Linke bekannte sich stolz zur vaterlandslosen Gesellschaft, der nationale Nihilismus erschien als stärkste Festung gegen den nationalen Sozialismus; die intellektuelle BRD-Linke war endgültig durch liberale Menschenrechtsdoktrin oder zahnlose Marx-Exegese neutralisiert. Endlich war die nationale Frage zur unanständigen Frage erklärt, die nicht mehr gestellt, geschweige denn beantwortet werden durfte.

In dieser finsteren Zeit schrieben deutsche Denker zukunftsweisende politische Bücher. Von Bernard Willms wurde der Zusammenhang von Deutschem Idealismus und Deutscher Nation mit Schärfe erkannt und mit Leidenschaft vertreten21 . Hans-Joachim Arndt forderte eine nationale Politologie für Deutsche22 , und Hans-Dietrich Sander verlangte die Befolgung des nationalen Imperativs23 . Die Politologie für Deutsche hat auszugehen vom dismemberment of Germany, von einer Weltunordnung, die nur angerichtet werden konnte, weil wir die Besiegten von 1945 waren; einziger Zweck dieser Unordnung ist der Ausschluß Deutschlands aus der Gesellschaft souveräner Staaten. Dagegen lautet der nationale Imperativ an unser wie an jedes andere Volk: Sei Nation und anerkenne jedes Volk als Nation, somit als staatliches Völkerrechtssubjekt! Die Umkehrung des nationalen Imperativs ist der nationale Prohibitiv, der da lautet: Bilde kein Völkergemisch und verwerfe jedes Völkergemisch als Unnation! Die US-, UK- und RF-Bürger müssen ebenso verschwinden wie die SU-Bürger.

Und dann kam wieder ein 9. November! Der nationale Nihilismus in Deutschland wurde gründlicher blamiert als je eine ideologische Modeströmung zuvor. Wer heute unrechtlich und unpolitisch denkt, wird als so unfähig empfunden wie jeder situationskonservative Lagebeurteiler. Alles jetzige Elend der deutschen Denker entspringt einer freiwilligen Verausländerung ihrer Gedanken und ist daher kein erzwungenes, sondern selbstverschuldetes Elend. Wer immer noch Links-Rechts-Fronten eröffnet, der hat es verdient, lebenslang in der Carl-Schmitt-Falle einzusitzen; der sieht auch nicht, daß das deutsche Volk angesichts des endenden Jahrhunderts nicht nur Recht behalten, sondern erstmals auch gute Aussichten hat, sein Recht zu bekommen. Und erst, wenn das deutsche Volk sein Recht bekommt, widerfährt auch den deutschen Denkern Gerechtigkeit.

* * *

Fußnoten

  1. Carl Schmitt, Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität, München/Leipzig 1922 (Ausg. 1934).
  2. Das Ideal der Juristen-Norm erreicht der reine, rechtsfreie Normen-Logiker; in der »Reinen Rechtslehre« (1934) des jüdischen Gesetzeslehrers Hans Kelsen, die korrekterweise aber »Reine Gesetzeslehre« heißen müßte, finden wir dieses Ideal verwirklicht. Ein anderer Norm-Jurist, der dem Ideal recht nahe kommt, ist Gustav Radbruch, der in seiner »Rechtsphilosophie« (1932), 6. Aufl, Stuttgart 1963, S.182, schreibt: “Wir verachten den Pfarrer, der gegen seine Überzeugung predigt, aber wir verehren den Richter, der sich durch sein widerstrebendes Rechtsgefühl in seiner Gesetzestreue nicht beirren läßt.” Dieser schöne Freifahrschein für gesetzestotalitären Gerichtsbrauch scheint ihn 1946 etwas gereut zu haben, als er über »Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht” (aaO S. 347-357) schrieb. Die schlichte Wahrheit ist, daß das Recht immer übergesetzlich, das Gesetz aber nicht immer unrechtlich ist. Bei Gesetzen ist ferner das bloße Soll-Gesetz von Zwangsge-setz zu unterscheiden. Das mosaische Gebot »Du sollst nicht töten!« ist ein Soll-Gesetz, die Aufrichtung eines Verhaltensideals für ein Volk, dessen Gemeinbrauch deutlich darunter steht. Selbst wenn die Nichterfüllung des Gebots bestraft wird, hat der Soll-Charakter des Gesetzes immer eine liberale Richtung von Strafzumessung und vollzug (Abschaffung der Todesstrafe und Aufhebung des Strafcharakters durch Resozialisierung) im Gefolge. Wenn die germanischen Völker, die das Christentum annahmen, die zehn Gebote als Zwangsgesetze und somit als übliche Selbstverständlichkeiten auffaßten, sprach dies für ihre Sitten, nicht für ihr Textverständnis. – Gut verstanden hat der jüdische Dichter Franz Kafka das Wesen des geoffenbarten Gesetzes. In seinem berühmten Roman »Der Prozeß« ist das Gesetzbuch eine pornographische Schrift. Angst und Aufklärung gehört zum Wesen der Gesetzlichkeit. Die Angst gründet im Schrecken, die Aufklärung in der Pornographie, und beide sind mit dem Initiationsritus der Beschneidung dem Gesetzesvolk als sein Grundgesetz ins Fleisch geschnitten. Ob Beschneidung oder Beschreibung des Fleisches, ob Prägung der Münze, ob DIN-Normen -, dies alles sind Fixierungen von Naturalformen des menschlichen Daseins. Sie gibt es unter den verschiedensten Herrschaften, sei es nun jener, die an den Terror, dieser, die an die Aufklärung, oder unserer eigenen, die an das Recht glaubt.
  3. Carl Schmitt, Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus (1926), 4. Aufl., Berlin 1969.
  4. Carl Schmitt, Legalität und Legitimität, München/Leipzig 1932.
  5. Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen (Text von 1932), Berlin 1963.
  6. Vgl. »Politische Lageanalyse« von Hans-Joachim Arndt, in: Politische Lageanalyse. Festschrift für Hans-Joachim Arndt zum 70. Geburtstag, ed. Beismann/Klein, Bruchsal 1993, S. 11-14. Dort auch meinen Beitrag »Zerlegung der Lage. Axiomatische Bemerkungen zum Lagebegriff des Politischen«, S. 235-240, nachgedruckt in: Staatsbriefe 1/93.
  7. Reinhold Oberlercher, Die moderne Gesellschaft. Ein System der Sozialwissenschaften, Bern 1987. Das Prinzip der Begriffsklonung wurde hier verallgemeinert: von Marxens »Warenphilosophie« auf die »Rechtsphilosophie« (die politologische Spielart der politischen Ökonomie) rückübertragen und auf eine “Meinungsphilosophie” (die psychologisch-theologische Spielart) und eine “Objektphilosophie” (die soziologische Spielart) ausgedehnt. Das vollständige System der rechtlich-politischen Kategorien ist im 2. Kapitel unter dem Titel “Die Macht” abgehandelt.
  8. Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, ed. Winckelmann, 4. Aufl., Tübingen 1956.
  9. Carl Menger, Grundsätze der Volkswirthschaftslehre, Wien 1871.
  10. Oswald Spengler, Jahre der Entscheidung, München 1933.
  11. Ernst Jünger, Der Arbeiter. Herrschaft und Gestalt (1932), Stuttgart 1982.
  12. Oswald Spengler, Der Mensch und die Technik, München 1931, S. 10./li>
  13. Hans Freyer, Der Staat, Leipzig 1926.
  14. Hans Freyer, Soziologie als Wirklichkeitswissenschaft, Leipzig/Berlin 1930.
  15. Ferdinand Fried, Das Ende des Kapitalismus, Jena 1931.
  16. Ernst Forsthoff, Der Staat der Industriegesellschaft, 2. Aufl., München 1971.
  17. Walter Benjamin, Zur Kritik der Gewalt und andere Aufsätze, Frankfurt/M, 1965.
  18. Theodor W Adorno, Negative Dialektik, Frankfurt/Main 1966.
  19. Arnold Künzli, Zur Befreiung der Emanzipation von der Hypothek der Erlösung, in: L’80, 9/85, S. 52 f.
  20. Bernard Willms, Idealismus und Nation, Paderborn 1986.
  21. Bernard Willms, Idealismus und Nation, Paderborn 1986.
  22. Hans-Joachim Arndt, Die Besiegten von 1945, Berlin 1978.
  23. Hans-Dietrich Sander, Der Nationale Imperativ, 2. Aufl., Essen 1990.
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