Der Deutsche Idealismus, so wird in gängigen Geschichten der Philosophie erzählt, habe von Kant bis Hegel sich munter entfaltet als kritischer (Kant), subjektiver (Fichte), objektiver (Schelling) und absoluter (Hegel) Idealismus, sei eine Weile preußische Staatsphilosophie gewesen und dann um die Mitte des 19. Jahrhunderts, als der späte Schelling in Berlin keinen Anklang mehr fand, zusammengebrochen. In dieser Sichtweise hat auch das eigentliche 19. Jahrhundert in seinen Siegeszügen von Naturwissenschaft und Technik erst mit Hegels und Goethes Tod Anfang der 30er Jahre begonnen.
Dieses vertraute Bild ist im entscheidenden Punkt, nämlich im Endpunkt, zu korrigieren: Der letzte Systementwurf des Deutschen Idealismus ist nicht die Endfassung des Hegelschen Systems, die Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften von 1830, sondern Das Kapital (1867,-85,-94) von Marx und Engels. Der Deutsche Idealismus, so meine These, brachte also am Ende des 19. Jahrhunderts in England seinen letzten und ausgereiftesten Systementwurf hervor.
Dieser Auffassung widersprechen Ideenhistoriker, die das Materialismus-Argument beim jungen Marx besonders ernst nehmen, also kommunistische Parteigeister und konservative ebenso. Besonders letzteren ist am Materialismus bei Marx viel gelegen, weil an einem handfesten Feind im geistigen Bürgerkrieg.
Wer die Kräfte eines Volkes auf ein Gemeinschaftsziel hin bündeln will, muß zuvor den geistigen Klassenkampf entschärfen, indem er die Kampfparteien zu notwendigen Momenten eines dialektischen Gegensatzes herabsetzt und damit den Kampf als ganzen in einen Motor für die Bewegungen des Volksgeistes verwandelt. Die These vom idealistisch-materialistischen Antagonismus in der Philosophiegeschichte möchte ich daher am Beispiel des Deutschen Idealismus relativieren und vielmehr zeigen,
- daß der Unterschied von Idee und Tat der von Tatgedanke und Gedankentat ist,
- daß das Ideal und das Real einander normierende Normen sind, und
- daß der Materialismus die Allgemeinheit, der Immaterialismus aber die Besonderheit und die Einzelheit im Denken des Deutschen Idealismus ausmacht.
Das materialistische Argument selber in seiner dialektisch-tätigen Gestalt, in der auf die Spontaneität der menschlichen Arbeitskraft (und damit auch ihres Erkenntnisvermögens) abgehoben wird, bildet den denkerischen Ausgangspunkt der idealistischen Bewegung bei Kant. Der Sattlersohn Immanuel Kant weiß natürlich, daß die Arbeitskraft das Apriori einer jeden Arbeit und das Erkenntnisvermögen zum Inventar der Arbeitskraft und zum Apriori eines jeden Erkennens gehört. Und Johann Gottlieb Fichte, der Sohn eines armen Leinenbandwirkers aus der Lausitz, weiß, daß es auf die wirkliche “Thathandlung” ankommt, mit der das Ich das Nicht-Ich, also den Rest der Welt insgesamt, erobert. Vom materiellen Arbeitsprozeß, vom lebendigen Stoffwechsel des Menschen mit der Natur, hat der Deutsche Idealismus seinen Ausgang genommen. Dieser bot ihm den Anfang, die abstrakte Allgemeinheit der Bestimmungen des geistigen Arbeitsprozesses, also des Erkennens, das von Schelling und Hegel, den Sprößlingen des schwäbischen Pastorenadels, auf die Gedanken Gottes vor und nach der Erschaffung der Welt, also auf Logik, Natur und Geist, ausgedehnt wurde. – Idealistische Philosophie ist Philosophie der Arbeit, ist das System der Ideen als der Tatgedanken, die auf die Tathandlungen als den wahren Gedankentaten gerichtet sind. Der Deutsche Idealismus ist das Denken des Apriori von Arbeitskraft zum Arbeitsprozeß, ist das Gebundensein allen Erkennens an Arbeit und ihren Primat der Idee, so daß die Differenz von Idee und Tat nur als Unterschied von Tatgedanke und Gedankentat erscheinen muß.
Idealistisch ist schon der rein materielle Arbeitsprozeß, weil in jeder Arbeit der Gedanke vor der Tat kommt. Aber freilich ist so mancher Arbeitsprozeß gedankenschwer und tatenarm, wenn zur Herstellung der endgültigen Idee, dem unmittelbaren Tatgedanken, viele mittelbare Gedanken als Denkgegenstände (Probleme), Denkwerkzeuge (Begriffe), Denkmaschinen (Gedankensysteme, Theorien) und Denkautomaten (Theoriensysteme) nötig sind. In den industriell-materiellen Arbeitsprozessen der Gegenwart erscheint die dingliche Herstellung der Produkte oft nur als Schlußpunkt zum aufwendigen Entwicklungsgang einer ausführbaren Idee. Die Idee ist unter den ewigen Gütern das endlich ausführbare; sie ist das Konsumgut der geistigen Produktion. Das Ideal ist die Idee, wie sie sein soll; das Ideal ist die normierte Idee. Idealismus ist das System der Tatgedanken, wie sie sein sollen, und Deutscher Idealismus ist das System der deutschen Solltatgedanken.
Wenn die Idee in die Tat umgesetzt wird und ihr Ideal als ihr Real erscheinen muß, dann zeigt sich gewöhnlich, daß das Real das Ideal nicht erreicht. Das tatsächliche, das aus der Tat zur Sache gewordene Reale führt jetzt zur sog. praktischen Überprüfung des Ideals und der darin genormten Idee selber. Das nichtideale Real wirkt als Veränderungsnorm auf künftige Realisierungen der Idee und auch als Korrektiv auf die Idee selber und ihre Norm, das Ideal. Das Real ist zwar das Tatsächliche und daher selten ideal, normiert aber die Idee und ihr Ideal gleichermaßen. Das Sollen ist das ideale Wollen oder die Willensnorm. Denn der freie Mensch will tun, was er soll, und zugleich soll er wollen, was er kann, und was er kann, das will er auch sollen. Der freie Mensch als Person, als Pflichten- und Rechtesubjekt, verlangt nach dem sittlichen Leben. Die Abweichung vom Ideal und damit die Verfehlung der Norm wird zum Normgeber für die Entwicklung der menschlichen Arbeitsprozesse oder Tathandlungen einschließlich ihres Ideensystems und seiner Idealisierungen. – In dieser systematischen Sicht ist Deutscher Idealismus deutsches Denken überhaupt. Jetzt aber wollen wir ihn im eingeschränkt historisierten Sinne betrachten und die eingangs erwähnte Sinnerweiterung etwas verständlicher begründen.
Leibniz als Vorfahre der idealistischen Bewegung in Deutschland hat für die Materie als res extensa mit seiner Monadologie (1714) energisch Platz geschaffen, indem er der Natur allen Platz überhaupt, also Raum und Zeit insgesamt, einräumt. Die Monade muß dann sowohl unräumlich (also unteilbar und fensterlos) als auch ewig (also unsterblich und unzerstörbar) sein, weil nicht in der Zeit geschaffen, sondern mit ihr. Die Monaden werden am Ende dieses Weltalters ihr Außer-Gott-Sein, ihre prästabilierte Harmonie in der besten aller möglichen Welten beenden und in Gott zurückkehren. Gott selber aber hört auf, oberste Zentralmonade und daher Gott zu sein, wenn die von ihm geschaffenen Monaden zu ihm heimkehren und wieder absoluter Geist, wieder raumlos-zeitlose Vollkommenheit sind. Leibnizens Monadologie sieht den sinnlich-übersinnlichen, den zeitlich-ewigen Doppelcharakter aller natürlichen Dinge wie später Kant den empirisch-überempirischen Doppelcharakter aller unserer Erkenntnis und noch später Hegel den Doppelcharakter des Rechts als Besitz und Eigentum und schlußendlich Marx den Doppelcharakter der Ware als Gebrauchswert und Tauschwert.
Die Monade ist das Seelenatom, sie enthält ein Bild des Alls und erzeugt ständig Vorstellungen (Perzeptionen) oder sogar bewußte Vorstellungen (Apperzeptionen) im Falle des Menschen. Jede Monade ist ein der Handlung fähiges Sein, also eine Seele oder Kraft. Jede Monade ist einmalige Individualität und somit unverwechselbare Unteilbarkeit. Höhere Individualitäten werden als Herrschaftsverbände vieler verschiedenartiger Monaden unter einer Zentralmonade gebildet, letztlich aber unter Gott. Alle Monaden sind seelische Atome und eine Kraft, die spontan (also frei) tätig ist, indem sie Vorstellungen aus ihrem jeweils eigenen Spiegelbild des Alls heraus erzeugt. Die Vorstellungen sind die Tätigkeiten der Monaden, die sich unterscheiden in mehr oder weniger deutliche, wobei ganz deutliche Vorstellungen nur die göttliche Monade hat und entsprechend ungehemmte Tätigkeit ist, während verworrene Vorstellungen nur gehemmte Tätigkeiten sind. Gott hat die Monaden in prästabilierter Harmonie zueinander und damit die beste aller möglichen Welten geschaffen. Weil Gott die Monaden nicht in der Welt, sondern mit der Welt geschaffen, sind sie unsterblich. Die Monaden sind die Seele oder unsterbliche Kraft in jedem Weltwesen, und als Monade ist auch Gott in seiner selbstgeschaffenen Welt.
Leibnizens Monadologie gewährt beseelte Selbheit noch dem winzigsten Staubkörnchen im All, sie ist eine völlig kommunikationslose, gesellschaftsfreie und marktferne Metaphysik, die ein jegliches Ordnungs- und Hierarchiedenken und damit die Gemeinschaften philosophisch und nicht etwa bloß biologisch begründen kann. Über- und Unterordnungen in den Vergemeinschaftungen der Monaden und also ihre Herrschaft regelt sich durch die Deutlichkeit ihrer Vorstellungen und nicht etwa durch Befehl und Gehorsam. Die so gebildeten Gemeinschaften sind als Seelen (res cogitans) völlig autark und autonom; ihre Vorstellungen als ihre Handlungen bedürfen keiner gesellschaftlichen Arbeitsteilung, denn sie sind eine vollendet betriebliche. Hingegen als Körper (res extensa) sind die so gebildeten Gemeinschaften dann höchst kommunikations- und gesellschaftsfähig, so wie Leibniz selber es war. Seine Monadologie gestattet es, das Gemeinschafts- und Gesellschaftsdenken auch in vorbiologische Daseinsformen, deren Zentralmonaden Individualität (Unteilbarkeit) und Identität (Selbheit) und damit auch Spontaneität als Vorformen der Freiheit haben, hineinzutragen.
Leibniz bietet die Grundlage für eine sozialwissenschaftliche Betrachtung der Natur. Und er konzipiert Gott und die Welt auf urdeutsche Weise, nämlich krafttheoretisch, wie es schon Nikolaus von Kues im 15. Jahrhundert mit seinem Seinkönnen (possest) und Meister Eckhart im 14. Jahrhundert mit dem Fünklein vom Geiste Gottes in der Seele des Menschen getan. Nach Leibniz haben wir bei Kant als Kraftbegriffe die drei Seelenvermögen Erkennen, Begehren und Fühlen, deren jeweilige Prüfung er in seinen drei Kritiken (der theoretischen oder reinen Vernunft, der praktischen Vernunft, der Urteilskraft) liefert und zu einer Kategorientafel als Festapriori synthetischer Urteile kommt und damit unhaltbar gewordene Kategorien der alten Metaphysik verwirft. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wird Nicolai Hartmann das Kantische Festapriori durch eine Kategorialanalyse der verschiedenen Seinsstufen (physische, organische, seelische, geistige) ersetzen, wodurch er zu einem Fließapriori findet, das zwar vor aller Erfahrung, aber nicht außer der Zeit gilt. An den letzten Systementwurf des Deutschen Idealismus hingegen werden erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die 68er Theoretiker wieder anknüpfen. Aus der Rezeption des Konzepts der asiatischen Produktionsweise kommen sie (Krahl, Dutschke, Rabehl u.a.) zur Verwerfung des Sowjetismus, den Rudi Dutschke eine “allgemeine reale Staatssklaverei” genannt hat. Die 68er Theoretiker sind durch 1989 und die Folgen glänzend bestätigt worden. Darüberhinaus zeigte sich, daß allein mit dem letzten Systementwurf des Deutschen Idealismus die Formalisierung gelang, die zahlreichen Formalisierungsversuche des vorletzten, des Hegelschen Systementwurfs aber scheiterten. Nur die Formalisierung des Kapitals von Marx und Engels ermöglichte mir die Durchführung des Systems der Sozialwissenschaften (1987) bis hin zur Weltgeschichtsformel.
Leibniz hat die durchgehende Formalisierung des Wissens in einer Begriffsschrift (Universalcharakteristik) gefordert, die als allgemeine Charakteristik der Begriffe auch heute noch fern ihrer Verwirklichung ist, aber als besondere erstmals im 19. Jahrhundert im periodischen System der chemischen Elemente realisiert wurde, wobei das Element durch seine Massenzahl identifiziert wird. Noch nicht durchgeführt ist die Leibnizsche Begriffs-Charakteristik in der Mathematik, weil ihre Operationen nicht aus einem festgestellten Begriff der Zahl, nicht als Zahlbegriffsindizierungen entwickelt, sondern aus praktischen Problemlagen empirisch gefunden sind. Hegels Programm der Philosophie als Wissenschaft (System des Wissens) ist von Marx verwirklicht worden, und zwar in einer Wissenschaft aus dem Begriff. Solch eine Wissenschaft veröffentlichte Marx 1867 mit dem ersten Band des Kapitals. Hundert Jahre später konnte die Kapital-Formalisierung konzipiert und 1972 vorgelegt werden. In ihr schlagen sich die Bewegungen des systemerzeugenden Begriffs nur noch in den Veränderungen der Indices seines Begriffszeichens nieder.
Bei Marx gibt es den Elementarbegriff der Ware mit den Begriffselementen Gebrauchswert und Tauschwert; er ist die genaue Übersetzung des Rechtsbegriffes bei Hegel vom Juristischen in’s Ökonomische. Hegel gelang es in seiner berühmten Rechtsphilosophie (1821) noch nicht, die Formen der Reflexion des einen Rechts in ein anderes Recht zu analysieren. Wohl aber konnte Marx mit seiner Wertformenanalyse zeigen, wie die eine Ware sich in der anderen Ware reflektiert. Deswegen war Das Kapital formalisierbar, nicht aber die Rechtsphilosophie. Aber das formalisierte System der Ware konnte in ein solches des Rechts rückübersetzt werden.
Kant ist typisch deutscher Kraftdenker von Anfang an, schon in seiner ersten philosophischen Veröffentlichung, den Gedanken von der wahren Schätzung der lebendigen Kräfte (1749). Kant thematisiert nicht die menschliche Arbeitskraft überhaupt, sondern nur ihre geistige Teilkraft, die Seelenvermögen Erkennen, Begehren und Fühlen. In der Kritik der reinen Vernunft (1781) unternimmt er die Prüfung “des Vernunftvermögens überhaupt, in Ansehung aller Erkenntnisse, zu denen es, unabhängig von aller Erfahrung, streben mag, mithin die Entscheidung der Möglichkeit oder Unmöglichkeit einer Metaphysik überhaupt und die Bestimmung sowohl der Quellen, als des Umfanges und der Grenzen derselben, alles aber aus Prinzipien” (A XII). Hauptfrage ist ihm, “was und wie viel kann Verstand und Vernunft, frei von aller Erfahrung, erkennen und nicht, wie ist das Vermögen zu denken selbst möglich?” (A XVII). Kant hinterfragt also nicht die geistige Arbeitskraft, sondern die geistige Arbeit, das Denken oder Erkennen, hier noch zugespitzt auf Erkenntnistheorie qua Selbsterkenntnis des Erkenntnisvermögens in der reinen Selbstbetrachtung. Das Denkvermögen und sein Inventar ist dem Denken transzendental, aber nicht transzendent. Denn unsere geistige Arbeitskraft ist jenseits unserer geistigen Arbeit, aber nicht jenseits von Raum und Zeit. Sie ist uns kein Ding-an-sich, sondern unsere Kraft.
Den Zugang zum menschlichen Erkenntnisvermögen gewinnt Kant durch die Frage: “Wie sind synthetische Urteile a priori möglich?” (B 19) Synthetische Urteile a posteriori sind Erfahrungsurteile, sie enthalten in der Satzaussage immer eine Hinzufügung über das hinaus, was mit dem Satzgegenstand als Begriff schon vorausgesetzt worden war. Dem Wissen wird also im synthetischen Urteil ein Mehrwissen hinzugefügt, und auf das Mehrwissen kommt es an im Prozeß des Erkennens. Bei Erfahrungsurteilen – synthetischen Urteilen a posteriori – unterstellt Kant nun die Herkunft des Mehrwissens aus der Erfahrung selber, also wohl aus der geistigen Verarbeitung von Sinneseindrücken. Bei synthetischen Urteilen a priori aber kann der Wissenszuwachs allein aus dem Transzendental des Erkenntnisprozesses kommen, nämlich aus dem Erkenntnisvermögen selber. Die Differenz von Denken oder Urteilen zum Denk- oder Urteilsvermögen macht also den Wissenszuwachs aus.
Kant versucht eine allgemeine Theorie der geistigen Arbeitskraft und eine Wissenszuwachstheorie aus ihrem Unterschied zum geistigen Arbeitsprozeß, dem Erkenntnisvorgang. Er hat damit eine fast schon vollständige Frühfassung der Marxschen Mehrwerttheorie geliefert, die das Mehrprodukt und seinen Mehrwert in allen Arbeitsprozessen aus dem Unterschied von Arbeit und Arbeitskraft ableitet. Die Mehrwerttheorie ist also ein Sproß der synthetischen Urteile a priori. Marx als Epigone dieses Ansatzes ist bescheidener und erfolgreicher als Kant: er will keine Inventarliste und keine Kategorientafel des menschlichen Arbeitsvermögens liefern, sondern beschränkt sich auf die eine Dimension der Wertgrößendifferenz zwischen Arbeitskraft und Arbeit, letztere natürlich nicht als konkrete, sondern als abstrakte. Die Marxsche Mehrwerttheorie ist ein Zwerg, der weiter sieht als der Riese, auf dessen Schultern er steht. Dieser Theorieriese ist das Transzendentalapriori Kants.
Die Kerntheoreme des ersten und des letzten Systementwurfs des Deutschen Idealismus sind somit fast die selben. Das Mehrwissen ist nur der edle und ewige, der unverbrauchlich gebrauchbare Teil des Mehrprodukts. Marx ist also nicht nur Hegelianer als Dialektiker, Schellingianer als Naturtheoretiker und Fichteaner als Arbeitstheoretiker und Sozialist, sondern auch Kantianer in seiner Mehrwertlehre. Kant ist aber nicht nur Eröffner einer neuen Epoche der deutschen Denkgeschichte, sondern auch Vollender der Freiheitstheorie Luthers.
Luther hat Gott befreit, indem er ihn von der Werkheiligkeit erlöst und ihm die Gnadenheiligkeit anheimgestellt hat. Den Christenmenschen hat Luther von den Werken und der Fesselung an das Heil, in Erlangung wie Verfehlung, entbunden, denn der freie Gott gewährt das Heil nur freiwillig und aus Gnade. Dem Gläubigen aber bleibt sicher der Glaube, der ihn selig macht, weil er der seine ist. Bei Luther ist dieser Glaube selber nicht frei, sondern festgelegt durch die Tradition der christlichen Offenbarung. Kant hat Luthers Werk vollendet, indem er den Glauben selber befreit hat. Er mußte, sagt Kant, “das Wissen aufheben, um zum Glauben Platz zu bekommen” (B XXX). Der Glaube bekommt also Gott, alle Dinge-an-sich, Ewigkeit und Unsterblichkeit, somit sämtliche Domänen der alten, vorkritischen Metaphysik als freies Gestaltungsfeld zugewiesen. Hier kann er nach Herzenslust spekulieren, dogmatisieren und sich das, was er glauben will, selber gestalten, es nur eben nicht als Wissen oder Wissenschaft ausgeben. Der Glaube ist als Glaube inhaltlich frei geworden, ihm fällt alles anheim, was transzendent ist. Kants neuer, wissenschaftlicher Metaphysik aber gehört das Transzendentale, also sämtliche synthetischen Urteile a priori, Erkenntnisse des Erkenntnisvermögens über sich.
Fichte und Schelling radikalisieren den Kantischen Ansatz, aber erweitern ihn auch. Fichte zieht die Folgerung aus der reinen Vernunft, Schelling geht in ihre Voraussetzung. Die Folge der reinen Vernunft als Erkenntnisvermögen ist der geistige Arbeitsprozeß, die Tathandlung der reinen Vernunft, ihre Voraussetzung aber die Natur, in der sie eingebettet ist in alle anderen Naturkräfte. Fichtes “Ich” wird konstituiert durch Arbeit, die in sich aber auch gegenständliche Momente vereinigt und also Arbeitsprozeß insgesamt ist. Die Handlung hat ihr Objekt zum Inhalt, das Ich aber als Form oder Begriff, und völlig zu Recht behauptet Fichte die Handlungs- oder Arbeitsprozeßgebundenheit aller Erkenntnis. Deswegen folgt nicht die Handlung der Erkenntnis, sondern die Erkenntnis der Handlung, also die geistige Arbeit ist Teil und Funktion jeder menschlichen Arbeit überhaupt, woraus der Primat der praktischen Vernunft vor der theoretischen sich ergibt. Fichte als Handlungstheoretiker gründet daher auch den Eigentumsbegriff auf das Recht auf Arbeit, genauer: auf das Recht auf ausreichendes Familieneinkommen aus einer individuell-monopolisierten Arbeit. Er verwirft den Begriff des Eigentums als eines individuell-monopolisierten Besitzes. In Fichtes Geschloßnem Handelsstaat von 1800 hat die deutsche Arbeiterschaft ihr nationalsozialistisches Grundprogramm, von dem der historische Nationalsozialismus nur einen stark verdünnten Aufguß verwirklicht hat. Aber auch das bis Ende des 20. Jahrhunderts in Deutschland bestehende staatliche Arbeitsvermittlungsmonopol war von Fichtes Geist.
Schelling stellt im System des transzendentalen Idealismus (1800) es als eigentliche Aufgabe des Philosophen dar, die geistige Arbeitskraft oder Intelligenz aus natürlichen polaren Grundtätigkeiten zu konstruieren: “Cartesius sagte als Physiker: gebt mir Materie und Bewegung, und ich werde euch das Universum daraus zimmern. Der Transzendentalphilosoph” (also der Denker der geistigen Arbeitskraft qua Erkenntnisvermögen) “sagt: gebt mir eine Natur von entgegengesetzten Thätigkeiten, deren eine ins Unendliche geht, die andere in dieser Unendlichkeit sich anzuschauen strebt, und ich lasse euch daraus die Intelligenz mit dem ganzen System ihrer Vorstellungen entstehen. Jede andere Wissenschaft setzt die Intelligenz schon als fertig voraus, der Philosoph betrachtet sie im Werden …” (ed. Schröter, II 427). Die “Intelligenz” ist natürlich die menschliche Arbeitskraft in ihrer idealistischen Zuspitzung als Geisteskraft. Sie ist jetzt nicht mehr, wie bei Kant, das unhinterfragte Transzendental, von dem bestenfalls eine Inventarliste anzulegen ist, sondern zeigt sich als ein durchaus Hintergehbares, das zu seiner Explikation sich nicht unbedingt auf den langen Marsch der Fichteschen Tathandlungen begeben muß, nicht auf den Fortschritt angewiesen ist. Wenn die Intelligenz oder Geisteskraft jetzt selber durch entgegengesetzte Tätigkeiten erzeugt wird, so ist dies ein naturphilosophisches Argument, das auf besondere Naturkräfte, also auf die erste Natur, zielt, deren Wirken die Kraft der zweiten Natur, also Intelligenz oder Arbeitskraft, erzeugt. Schelling hinterfragt die Menschenkraft ökologisch, die Naturkraft ist das vordenkliche Sein der Arbeitskraft und ihrer Intelligenz. Allerschönster Schelling ist auch ‘die Naturalisierung des Menschen und die Humanisierung der Natur’ durch praktisch-materielle Arbeit beim jungen Marx vor 1848, und noch beim reifen Marx heißt die Maschine ‘angeeigneter Naturprozeß’.
Hegel faßt in der Vorrede zur Phänomenologie des Geistes (1807) den Arbeitsprozeß insgesamt als Prozeß wie als Resultat gleichermaßen auf und repräsentiert in der erkenntnistheoretischen Entwicklung des Deutschen Idealismus damit die Stufe des Biologismus: “Denn die Sache ist nicht in ihrem Zwecke erschöpft, sondern in ihrer Ausführung, noch ist das Resultat das wirkliche Ganze, sondern es zusammen mit seinem Werden; der Zweck für sich ist das unlebendige Allgemeine, wie die Tendenz das bloße Treiben, das seiner Wirklichkeit noch entbehrt; und das nackte Resultat ist der Leichnam, der die Tendenz hinter sich gelassen.” Die Inhalte des Gesamtprozesses erscheinen in drei Formen, der verständigen, der dialektischen und der spekulativen, wobei die beiden letzteren die vernünftigen Formen sind. Der Verstand ist abstrakt und hält die Bestimmungen fest, unter Absehung von den anderen; die Dialektik löst die festen Bestimmungen der Begriffe auf und verwandelt sie in ihr Gegenteil, und die Spekulation betrachtet die positiv-vernünftige Einheit der festen und der fließenden Bestimmungen. Unter den verschiedenen Erkenntnisvermögen nimmt Hegel sich kein geringeres vor als dasjenige Gottes oder des absoluten Geistes, und am Arbeitsvermögen dasjenige des Weltgeistes oder des objektiven Geistes in seiner ungeheuren Arbeit der Weltgeschichte selber. Das ganze Hegelsche System ist in Logik, Natur und Geist als der reinen, der außersichseienden und der zusichkommenden Idee unterteilt, also grob gesprochen Gottes Gesamtarbeitsprozeß.
Im Gesamtarbeitsprozeß läßt Hegel Gott zunächst die reine Idee als Arbeitsvorstellung fassen, dann darf Gott die Idee in der Natur, der liederlichen Phase seines Daseins, materialisieren, als außersichseiende Idee in ihrem ideell-raumzeitlichen, unorganisch-materiellen und organisch-lebendigen Außereinander als Werkstücke realisieren; schließlich darf Gott die in der Natur außersichgeratene Idee wieder im Endprodukt des Geistes als zusichkommende Idee in den Unterabteilungen des subjektiven, objektiven und absoluten Geistes sich wieder beruhigen lassen. Nachdem Hegel sah, daß Gottes Werk wohlgetan war, gönnte er ihm die Sonntagsruhe.
Man kann die besondere Herausarbeitung der erkenntnistheoretischen Stufen auf die idealistischen Denker wie folgt verteilen: Kant erklärt die Arbeitskraft qua Erkenntnisvermögen zum unhintergehbaren Transzendental der Arbeit als Erkennen, Urteilen, Denken. Fichte propagiert die lebendige Arbeit (und folglich den Arbeiter und sein Recht auf Arbeit) als Movens und Hauptmoment des Arbeits- und Erkenntnisprozesses; seine Parole heißt: Handeln! Schelling wendet den Deutschen Idealismus ins Objektive, in die Arbeitsgegenstände und also auch an die Natur und ihre Dingbarkeiten. Kant ist der Kraftdenker, Fichte der Arbeitsdenker, Schelling der Gegenstandsdenker und Hegel der Gesamtprozeß- und Gesamtresultatsdenker. Dies alles stimmt natürlich nur für die jeweils grobe Haupttendenz.
Die Erkenntnistheorie kann Kant für den Pädagogismus, Fichte für den Aktionismus, Schelling für Naturalismus und Chemismus und Hegel für Biologismus, Finalismus und Infinitismus vorwiegend in Anspruch nehmen. Eine saubere und vollständige Analyse des einfach-materiellen Arbeitsprozesses findet sich erst bei Marx, er ist der Gewährsmann des erkenntnistheoretischen Mechanismus. Marx’ analytisches Urteil, daß der Arbeitsprozeß aus menschlicher Arbeit, ihrem Mittel und ihrem Gegenstand besteht und im Arbeitsprodukt erlischt, war für die Handwerkersöhne wohl zu naheliegend und für die schwäbischen Theologen wohl zu tiefliegend, um des Aussprechens für würdig befunden zu werden, bedeutete für den jüdischen Anwaltssohn aus Trier aber eine große Entdeckung, die er vielleicht als Materialismus-Beweis mißverstand. Zu Ende geführt hat sie erst die Epistemologie des 68er Theorietyps.
Betrachtet man das Hegelsche System, wie hier geschehen, in sehr distanzierter Weise als Gesamtarbeitsprozeß, dann erklärt sich auch ganz zwanglos, warum die Mathematik sowohl in der Logik unter Quantität als auch in der Natur unter Dimensionen des Raumes (Geometrie) und unter Negation der Dimensionen der Zeit (Arithmetik der ruhigen Eins oder des Endlichen) vorkommt: Die gleiche Idee ist eben zuerst eine reine (logische) und dann eine außersichseiende (natürliche). Ähnliches gilt für die Subjektivität, die in Logik und Geist, und für Mechanismus und Chemismus, die in Logik und Natur auftauchen.
Wegen der bisherigen Nichtformalisierbarkeit der Hegelschen Philosophie liegt es nahe, diese – wie Hermann Schmitz in seiner Untersuchung über Hegels Logik (1992) – als Systementwurf für gescheitert zu erklären. Man muß aber mit Schmitz Hegel zugestehen, daß er in seiner Logik das einpolige Sein vom zweipoligen Wesen, der Reflexion, und diese vom dreipoligen Begriff unterscheidet, der immer Einheit von Besonderheit B
, Allgemeinheit A
und Einzelheit E
ist. Da es aber die Einzelheit ist, welche Besonderheit und Allgemeinheit jedes Begriffes zusammen- und auseinanderhält und noch von allen anderen Begriffen fernhält, ergibt sich als Struktur der Begriffe nicht nur B-A-E
, sondern Einheit und Unterschied von B
und A
durch E: (B,A)E
. Die Einzelheit gibt der Besonderheit die Gattungsmerkmale, der Allgemeinheit die Quantifizierung und der Einzelheit die Identität oder Selbheit, so daß die Bestimmung des Begriffs auch als BE-AE-EE
notiert werden kann. Die Einzelheit vereinzelt sich selbst, so daß sie die Begriffsreihe (B,A)E (B,A)E’ (B,A)E’’
etc. erzeugt.
In Hegels Rechtsphilosophie § 40 erfährt dieses Begriffskonzept eine überraschende Füllung durch das Recht, das als Einheit von Besitz und Eigentum bestimmt wird, so daß sich als Rechtsbegriff (Besitz,Eigentum)Einzelheit ergibt. Die Einzelheit individuiert die Besonderheit des Besitzes und quantifiziert die Allgemeinheit des Eigentums und bestimmt beide Begriffsmomente zu einer jeweiligen Größe, faßt beide durch sich zusammen und stößt sich von sich selbst, die eine Einzelheit von jeder anderen, ab, und dies tut auch jede andere Einzelheit als die eine. So wird aus dem Recht überhaupt die Welt der Rechte:
(Besitz,Eigentum)Einzelheit 1 , (Besitz,Eigentum)Einzelheit 2 , … , (Besitz,Eigentum)Einzelheit n
.
Aus dieser Welt der Rechte entwickelt sich dann die Unterscheidung des einen öffentlichen Rechts von allen anderen als den Privatrechten. Dem gleichen Begriffsbildungsschema folgt die Person als durch Einzelheit zusammengefaßter Besitzer und Eigentümer. Aus der Welt der Personen ergibt sich dann ebenfalls die Differenz von öffentlicher Person zu den Privatpersonen. Weil aber der Begriffskorpus immer die durch Einzelheit zusammengefügte Besonderheit und Allgemeinheit ist, erzeugen sich die Unterschiede in der Welt der Personen wie auch der Welt der Begriffe überhaupt nur aus den anzeigenden Bewegungen der Einzelheit. In den Anzeigern r
der Einzelheit Er
vollzieht sich die Selbstentfaltung des Begriffs zu seinem System.
Marx hat den Rechtsbegriff bei Hegel abgeklont und in seinem Systementwurf als Begriff der Ware benutzt. Das Kapital ist eine Philosophie der Warenwelt, die aufgrund ihrer Stringenz formalisiert und zum gesellschafts- wissenschaftlichen Gesamtsystem vollendet werden konnte. Dieses System bliebe auch dann logisch konsistent, wenn man die klassische Lehre von der Wertschöpfung durch gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit fallen ließe. Denn der Systemaufbau erfolgt über die reflexionslogischen Beziehungen der Waren zueinander: über die Wertformenlehre und nicht über die Wertlehre.
Virtuos führt Marx den Doppelcharakter der Ware, die Einheit ihres besonderen Gebrauchswertes und ihres allgemeinen Tauschwertes, in ständigen Entzweiungen und immer neuen Vereinigungen bis zu den Produktionsfaktoren Boden, Kapital und Arbeit und den daraus abzuleitenden drei Hauptklassen der bürgerlichen Gesellschaft durch. Wie Marx selber, der ein Kulturdeutscher und ein Naturjude zugleich, ein deutscher Systemphilosoph und ein jüdischer Machtideologe war, hat sein Werk insgesamt einen scharf ausgeprägten Doppelcharakter: Das Kapital ist deutsch-idealistischer Systementwurf, die programmatischen Schriften sind jüdischer Messianismus. Das Wirtschaftsprogramm des Kommunistischen Manifests von 1848 ist ein Aufguß der Enteignungs- und Planwirtschaftsmaßnahmen, die nach Genesis Kap. 47, Vers 13-26 Joseph in Ägypten durchführte und die die Bolschewisten wiederholten. Marx trägt also durchaus eine große Mitschuld am Kommunismus des 20. Jahrhunderts, hat aber auch ein großes Mitverdienst am Deutschen Idealismus des 19. Jahrhunderts.
Aus dem Kapital als Systementwurf wie aus dem System der Sozialwissenschaften als Entwurfsausführung ergibt sich als politische Folgerung keine einzige der kommunistisch-despotischen Maßnahmen, wohl aber eine Ausführung, auf welche Weise der Staat die Wirklichkeit der sittlichen Idee ist und wie er als Handelsstaat, ob offen oder geschlossen, steuerbar bleibt. Sein Programm hat Marx selber durch sein theoretisches Werk widerlegt. Umgekehrt konnte aus der politologischen Ausführung seines politökonomischen Systementwurfs der Zusammenbruch der kommunistisch-orientalischen Despotie schon 1979 im Vorwort zur Allgemeinen Theorie der Politik und des Rechts vom 68er Theorieprogramm vorhergesagt werden.
Die Marxsche Voraussage eines Zusammenbruchs der Marktwirtschaft findet sich im Kapital-Rohentwurf von 1857/58 auf Seite 593 im Zusammenhang des tendentiellen Verschwindens der Arbeit aus der Produktion und daher des Tauschwertes aus den Produkten, was deren Waren-Charakter insgesamt und damit den systembauenden Begriff in Frage stellt.
Der Warencharakter der Produkte und die arbeitslose Produktion, asiatische Produktionsweise und orientalische Despotie in Rußland waren die Themen der 68er Theorie. Hans-Jürgen Krahl und Rudi Dutschke trugen am 5. September 1967 auf der 22. Delegiertenkonferenz des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes in Frankfurt am Main folgendes vor: “Wenn der technische Fortschritt der Maschine zwar potentiell die Arbeit abschafft, aber faktisch die Arbeiter abschafft und eine Situation eintritt, in der die Herrschenden die Massen ernähren müssen, wird die Arbeitskraft als Ware tendentiell ersetzt. …Daß am Ende der Rekonstruktion die strukturelle Arbeitslosigkeit nicht mehr im Zusammenhang mit der Funktionsbestimmung der Reservearmee analysierbar ist, ist Indiz dafür.” Schon 1965 schrieb Dutschke: “Die tendentiell völlige Arbeitslosigkeit muß für uns, für unsere Praxis der entscheidende Fixpunkt sein. Von diesem für uns ökonomischen Endziel des technologischen Prozesses her muß sich unsere Strategie konstituieren.”
Diese Fragen nach Anfang und Ende der auf der Ware beruhenden Wirtschaftsweise wie nach dem Umkehrverhältnis von asiatischer und germanischer Gesellschaftsformation ist Jahrzehnte später, nach dem Triumph der liberal-kapitalistischen Weltrevolution, akuter denn je. Noch Anfang 1979 notierte Dutschke: “Wie wichtig ist es zu wissen, was die Geschichte Asiens und der asiatischen Produktionsweise ist, um überhaupt den Nebel des Begriffs-Betrugs durchbrechen zu können. Allgemeine Staatssklaverei und asiatische Produktionsweise sind voneinander nicht zu trennen.” Der asiatischen Produktionsweise galt auch Dutschkes Versuch, Lenin auf die Füße zu stellen von 1974, seine Doktorarbeit.
Daß die 68er Marx-Renaissance an den deutsch-deduktiven nationalen Denkstil und damit an den Deutschen Idealismus wiederanknüpfte und ein nationalrevolutionärer Aufstand gegen die Fremdherrschaft des anglo-amerikanischen Denkens war, hat der scharfblickende norwegische Politologe Johan Galtung (Leviathan 3/83) erkannt; ebenso, daß der deutsch-systematische Denkstil zwar die großartigste, aber auch die gefährlichste Denkungsart ist. Galtung nennt ihn den “teutonischen Denkstil”, der immer frage: Wie können Sie dies ableiten?, während der nipponische Stil früge: Wer ist Ihr Meister? Gegen den “sachsonischen” Denkstil, der in UK-Version nach der Dokumentier- und in US-Version nach der Operationalisierbarkeit frage, habe das deutsche 68 “eine Unabhängigkeitsbewegung” (aaO 325) des teutonischen Denkstils begonnen. Uneingeschränkt gilt dies nur für die Nationalrevolutionäre im SDS, nicht aber für die Internationalisten, Nazi-Kindern zumeist, die sich in der Frankfurter Schule jüdische Ersatzväter suchten und zu den nützlichen Idioten des nachzionistischen Diaspora-Nationalismus wurden. Denn der Internationalismus ist natürlicherweise nur der Nationalismus eines internationalen Volkes.
Hans-Jürgen Krahl hat in den Schulungen vom Winter 1969/70 festgestellt, daß “die Warenform des Produkts alle Elemente der Hegelschen Wesenlogik enthält”; ferner habe die Schulökonomie die Differenz von Wesen und Erscheinung und also den Marxschen Satz vom Tauschwert (Wertform) als der Erscheinungsform des Wertes nicht verstanden, habe nicht den Inbegriff der Kritik, nicht die Notwendigkeit von Gesellschaftswissenschaft, “weder Verdinglichung noch falsches Bewußtsein, Fetischisierung und Mystifikation begriffen” (Konstitution und Klassenkampf, 1971, S.373). Schon im Adorno-Seminar vom Wintersemester 1966/67 hat Krahl “Zur Wesenslogik der Marxschen Warenanalyse” referiert und damit den Ansatz sowohl der Wertformendebatte als auch der Staatsdeduktionsdebatte in der ersten Hälfte der 70er Jahre geliefert. Wie Nicolai Hartmann in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts den Deutschen Idealismus an seinem ersten Systementwurf wiederaufnahm, so haben Krahl und die Nationalrevolutionäre im SDS den Deutschen Idealismus an seinem letzten Systementwurf wieder angepackt und für den Rest des Jahrhunderts seine Entwicklung bestimmt.
Diese Entwicklung aufzuhalten hat Werner Becker 1972 in seiner Kritik der Marxschen Wertlehre versucht. Er ging richtig davon aus, daß Marx, indem er den Begriff der Ware als einen Gegensatz auffaßt, die politische Ökonomie dialektisiert und so mit der objektiven Wertlehre als einziger Basistheorie auskommt. “Er genügt damit theoretischen Ansprüchen, denen in der Neuzeit lediglich noch philosophische Systeme von der Art derjenigen der deutschen Idealisten … nachzukommen vermochten.” (148) Becker will den Gegensatz in der Ware als subjektiven Widersinn der Marxschen Argumentation nachweisen und den entdialektisierten System-Leichnam als Apologie des Kapitalismus geltenlassen: “Ohne diesen Gegensatz-Begriff kommt es weder zum vielbeschworenen ‘Fetischcharakter der Ware’ noch zur Deduktion der Geldform, und – was das Wichtigste ist – ohne ihn kommt die Marxsche Lehre von der Entstehung des Mehrwerts in den Rang einer gigantischen ökonomischen Rechtfertigungstheorie des kapitalistischen Profits” (7). Die Entdialektisierung versucht Becker zu bewerkstelligen, indem er an der Formulierung “x Ware A = y Ware B”, die eine Warengleichung und damit einen Warenaustausch beschreibt und die Marx zum Ausgangspunkt für die Wertformanalyse nimmt, bemängelt, daß sie offensichtlich keine Wertform ist, was stimmt. Sie sei “Wertgleichung im Rahmen der einfachen Wertform” (52), womit Marx eine bedeutungsdifferente Beschreibung eines identischen ökonomischen Sachverhaltes geben wolle und somit einen Theoriewiderspruch in einen Gegenstandswiderspruch verfälsche. Weil Becker ohne Begriffsformalisierung an Marxens Theorie herangeht, kann er nicht sehen, daß Wertgleichung, Wertformen, Güterunselbheit und Gütergleichheit als Güterrealtausch die Bedingungen jedes Warenaustausches sind. Beckers Angriff zielt auf das wirkliche Zentrum der Marxschen Theorie und ist folglich von gerader und ehrenwerter Art, scheitert aber mit der analytischen Weichheit seiner verbalsprachlichen Waffen an der Härte der angegriffenen Theorie.
Die Marxsche Warenanalyse liefert tatsächlich die alltägliche Wesenslogik aller warenproduzierenden Gemeinschaften, also aller Marktwirtschaften. Das Wesen, das erscheint, ist das Allgemeine, das sich besondert, und das Abstrakte, das sich konkretisiert. Die eine Einzelheit des Wesens ist aber auch die allgemeine Einzelheit, die in der anderen, besonderen Einzelheit in die Erscheinung tritt. In der Wesenslogik der Warenanalyse ist aber der Wert das Wesen und das Allgemeine und der Gebrauchswert die Erscheinung und das Besondere. Die Einheit von Wesen und Erscheinung ist die Erscheinungsform, oder kürzer: Wesen mit Schein ist Erscheinung. Sie ist das Eine als das Andere, ist gedoppelte Einzelheit und damit Reflexion. Als Reflexion zweier Waren ist die Erscheinungsform der Tauschwert im unanalysierten und die Wertform im analysierten Zustand.
An der Ungeklärtheit dieser Wesenslogik der Ware ist die Alte Linke schon mit Karl Kautsky (Karl Marx’ ökonomische Lehren, 1892) theoretisch gescheitert und 1933 dann politisch. Mit der Thematisierung der Warenanalyse und ihrer Wesenslogik betrat 1968 die Neue Linke, die auch nicht mehr die Industriearbeiterschaft, sondern gut idealistisch sich selber als revolutionäres Subjekt einsetzte, die philosophisch-politische Bühne, um sogleich das Ende der Warenproduktion und der Kapitalverwertung ins Auge zu fassen, was ja in der Tat eintreten wird, sobald die arbeitslose Produktion der vollautomatischen Fabrik vorherrscht. Die Neue Linke hat 1968 mit dem ersten Aufstand für das Reich der Freiheit in der Geschichte des Deutschen Idealismus Epoche gemacht. In der sozialen Realität aber ging alles im kapitalistischen Schweinsgalopp weiter, aus Besitzbürgern wurden Arbeitsbesitzer und aus entbürgerlichten Bürgern arbeitslose Arbeiter, Güterproduktion wird weiterhin in Warenproduktion, Eigenwirtschaft in Marktwirtschaft verwandelt, der Kapitalismus siegt sich seinem logischen Ende entgegen. Die ruckweise Umkehr dieser Entwicklungsrichtung, die Verwandlung von Waren- in Güterproduktion, von Marktwirtschaft in Eigenwirtschaft, wird Begleiterscheinung sowohl der faschistischen oder gar kommunistischen Konterrevolution als auch der Nationalrevolution sein, die Volksherrschaft und Volkswirtschaft wiederherstellt.
Die Gefährdung von Ware und Markt durch den Sieg der Marktwirtschaft selber scheint auch Recht und Person, also das Politische, zu bedrohen. In der Tat läßt sich von Marxens Programmatik angefangen über Schopenhauers Mitleidsethik, Nietzsches Willen zur Macht und die ganze phänomenologische Bewegung bis hin zur Fundamentalontologie ein Verlust des Politischen, eine ausschließliche Untersuchung von Naturalformen der menschlichen Existenz und eine Vernachlässigung ihrer Verkehrsformen, beobachten. Max Webers legal-rationale Herrschaft ist so unpolitisch wie Carl Schmitts Freund-Feind-Unterscheidung. Jürgen Habermas mit seiner Normentheorie, die auf eine Selbstjudaisierung des deutschen Denkens hinausläuft, und Niklas Luhmann mit seiner Differenztheorie gehören zur großen Schar der Naturalien-Philosophen des 20. Jahrhunderts, deren Extremisten der Wahrhaftigkeit die Gewaltapostel einerseits und die Pornographen andrerseits sind. Thomas Manns Josephsroman ist so reaktionär und freiheitsfeindlich wie es alle mit der kommunistischen Despotie sympathisierenden westlichen Schriftsteller zusammengenommen waren.
Aber die Ware wird mit der überfälligen Unterordnung der Marktwirtschaft unter die Eigenwirtschaften der Völker ebensowenig verschwinden wie Recht und Pflicht, wie Person, Politik und Freiheit. Die ehernen Gehäuse der großen Techno- und Bürokratien wie überhaupt die ‘große Industrie’ sind heute schon technisch, organisatorisch und politisch obsolet. Den Hausindustrien, den teil- bis vollautomatisierten Miniaturfabriken der Kleinbauern und Kleinbürger, den Hausindustriekomplexen und -netzen der neu sich in Stand setzenden Familien-, Sippen-, Stammes- und Volksgemeinschaften wird die Zukunft gehören. Die materielle Produktion als Reich der Notwendigkeit darf nicht aufhören, auch dann nicht, wenn sie absolut unprofitabel geworden ist, aber das Reich der Freiheit wird wachsen.