Erklärungen 13. April 1994

Die 68er Wortergreifung


Aus gegebenem Anlaß, weil von linker wie von rechter Seite des ideologischen Spektrums nach meinen 68er Erfahrungen und den daraus zu ziehenden Lehren gefragt, sehe ich mich vor die kitzlige Aufgabe gestellt, über meine politische Jugendzeit Rechenschaft zu geben. Denn es erscheinen doch in den Ausbrüchen der Jugend nicht nur die Prägungen der Kindheit im allgemeinen und die Merkmale des geschichtlichen Zustandes im besonderen, sondern auch die Knoten, die uns die Nornen geknüpft; sie zeigen die unlösbaren Verstrickungen des Einzelnen mit seinem Volk. Daraus entstehen Lebensläufe: Das Politische und das Persönliche sind untrennbar, denn die Person ist nicht nur das Subjekt, sondern auch der Begriff des Politischen.

I

Ich möchte über die 68er Wortergreifung in Deutschland im wesentlichen zwei Behauptungen aufstellen und erläutern: 1.) Die 68er Wortergreifung hatte keine gewöhnlichen sozialen Ursachen, sondern existentielle Gründe, d.h. aber: nationale Ursachen. 2.) Die 68er Wortergreifung war eine DDR-Revolution, die rechtzeitig in die BRD exportiert worden war: eine abgeschobene Wende.

Daß die 68er Wortergreifung aus der DDR kam, haben die Deutschen in der Westzone zwar schon damals gefühlt, aber nicht begriffen, was es damit auf sich hatte. Dem einst häufig zu hörenden Anwurf „Geh doch rüber!“ konnten die Aktivsten entgegenhalten, daß sie ihren Oppositionsgeist, gestählt in antiautoritären Kämpfen, aus dem Osten schon mit hergebracht hätten. Der charismatische Führer der 68er Wortergreifung war der DDR-Flüchtling und bekennende Protestant Rudi Dutschke, ihr politischer Stratege der DDR-Flüchtling und Linksdissident Bernd Rabehl. Theoretischer Kopf war Hans-Jürgen Krahl, der Vertriebene aus Ostpreußen; anfangs Korporationsstudent, merkte er bald, daß in der von Adenauer geprägten Westzone der Status quo auf dem rechten Flügel der ideologischen Front unangreifbar war und wechselte nach linksaußen, auf den lebensgefährlichen Posten des SDS-Cheftheoretikers. Krahl kam das Hauptverdienst an der Verwerfung der Positionen von Habermas und Marcuse zu. Krahl führte den tödlichen Stich bei der Kritik an Adorno und kam kurze Zeit darauf bei einem mysteriösen Autounfall ums Leben. Ich selbst, mit fünfzehn Jahren DDR-Häftling wegen Republikflucht, der damals bereits eine politische Kindheit voller antikommunistischer Widersetzlichkeiten hinter sich hatte, war der Theoretiker des Hamburger SDS und Auslöser des Hamburger Universitätsaufstandes, der die gesamte Systemkritik der 68er theoretisch vollendete. Das heißt, die 68er Wortergreifung wurde in ihrer geistigen Substanz von Ost- und Mitteldeutschen gegen Westdeutsche geführt, von den verratenen Teilen Deutschlands gegen die Verräter, gegen die Träger und Erhalter des Kollaborationsregimes der Westzone.

Eine vollständige Revolution ist selbstredend keine bloße Wortergreifung, sondern auch Macht- und Besitzergreifung eines Landes. Und 1968 ging von Studenten und Gymnasiasten aus, konnte nur eine Wortergreifung, nur Sprechprobe für eine wirkliche Revolution werden. Als solche war sie erfolgreich und die Generalprobe der deutschen Volksrevolution, die 1989 wiederum von Mitteldeutschen ausging, diesmal aber nicht rechtzeitig in die Westzone abgeschoben wurde. Sie brachte die DDR zum Verschwinden und versetzte die BRD in einen Schwächezustand, der sie revolutionsreif macht. Also: Die Hauptlehre aus der Revolution von 1968 ist die Revolution von 1989.

Die 89er Revolution ist seit ihrem Fanal, dem 9. November 1989, im Gange. Seitdem entwickelt sie sich fort, in Angriffen und Rückschlägen. Sie wird nicht vor ihrem Siege, nicht vor dem Ende der dämonischen (auf dem Dreyfus des Leibhaftigen hüpfenden) Unordnung von Versailles und Jalta enden. Der siegreiche mitteldeutsche Volksaufstand, der zur Beseitigung der DDR und zur Todweihung der BRD geführt hat, war noch keine ganze Machtergreifung des Volkes, sondern nur die eine Hälfte der Machtergreifung: die Altmachtbeseitigung. Zum endgültigen, geschichtlichen Sieg der 89er Revolution gehört noch die Beseitigung der westlichen Altmacht in Deutschland und die Wiedererrichtung des Deutschen Reiches in seinen rechtlichen Grenzen.

Die erfolgreiche Kulturrevolution, die 1966-1969 von Westdeutschland Besitz ergriff und mit den Osterunruhen von 1968 ins allgemeine Bewußtsein drang und bis an die Epochenschwelle von 1989 heranbrandete, war eine aus vorangegangenen geschichtlichen Ereignissen in Deutschland gezogene Lehre, wie eben auch ’89 die Konsequenzen aus ’68 zog. Die 68er Wortergreifung selbst war eine gezogene Lehre aus dem 13. August 1961, aus dem 17. Juni 1953 und aus dem 13. Februar 1945. Der Mauerbau von 1961 und die absolute Untätigkeit der Westmächte und der Bonner Republik hatte die Wiedervereinigungsrhetorik der BRD als pseudonationale Propagandalüge entlarvt, die nur eine Nebelwand vor der wirklichen Spalterpolitik aufgezogen hatte.

Schlagartig zeigte sich die abgeschnürte DDR als der harmlosere, bloß reaktiv-defensive Spalterstaat. Der 17. Juni erschien nun als tragischer Irrtum über den Standort des innerdeutschen Hauptfeindes. Als dessen Hauptschutzmacht, die USA, in den vietnamesischen Wiedervereinigungskrieg mit Napalmbomben gegen die Zivilbevölkerung eingriff wie einst mit Phosphorbomben gegen deutsche Frauen und Kinder, erinnerte sich das kollektive Unbewußte in Deutschland (wie später wieder im Golfkrieg) an den 13. Februar 1945 und den volks- und kulturmörderischen Charakter des nomadisch verfinsterten US-Imperiums. Vorposten dieses Imperiums war Westberlin mit einer blockadegeschädigten Bevölkerung, die wie nirgends sonst in Deutschland sich an ihre Besatzungsmacht klammerte. Verständnis für Amerikafeinde aus Mittel- und Westdeutschland war von diesem (politisch nachvollziehbaren) Inselprovinzialismus nicht zu erwarten.

Westberlin war unbestritten die Hauptstadt der Bewegung von ’68. Hier hatte der SDS die für eine politische Studentengruppe unglaublich hohe Zahl von 300 Mitgliedern. Die eine Hälfte davon kam aus der DDR, die andere Hälfte stellten rebellische Bürgerkinder aus Westdeutschland. Das Gemisch war hochexplosiv und zündete hier auch zuerst. Die geistige Hauptkampflinie aber verlief in Frankfurt am Main, weil dort ein jugendlich-unerfahrener deutscher Idealismus, geführt von Hans-Jürgen Krahl, auf die Speerspitze des jüdischen Geistes in Deutschland traf: auf Theodor W. Adorno.

Die veröffentlichte Meinung über die 68er Wortergreifung ist heute fast ebenso weit von der Wahrheit entfernt wie diejenige über die Ursachen des Zweiten Weltkrieges. Hat letztere den Charakter fortgesetzter Kriegspropaganda der Westmächte, so erstere den einer Dauerprophylaxe gegen den erneuten Ausbruch einer deutschen Kulturrevolution. So wird z.B. mit Penetranz behauptet, Adorno sei der geistige Wegbereiter von ’68 gewesen. In Wahrheit aber hat ’68 sich vom adornitischen Geiste des Nihilismus, d.h. einer bloß negativen und nicht positivierbaren Dialektik, befreit, seine Hochburg, das Institut für Sozialforschung, besetzt und Adorno selber durch Kritik getötet. Habermas wie die Frankfurter (Juden-)Schule waren Feinde, nicht aber Ideengeber der 68er Theorie. Entscheidender Anreger der originären 68er Theorie war der ungarische Wirtschaftsplaner Franz Jánossy, ansonsten natürlich Marx und die Deutschen Idealisten.

Jánossys Werk Das Ende der Wirtschaftswunder führte die auffallende Tatsache, daß die Kriegsverlierer Deutschland und Japan sogenannte Wirtschaftswunder hervorgebracht hatten, die entsprechenden Kapitalspritzen in England und Frankreich aber folgenlos versickert waren, auf die unterschiedliche Beschaffenheit und Entwicklungshöhe der jeweiligen nationalen Gesamtarbeitskraft zurück. Er hatte also bei der Betrachtung der Trendlinien der wirtschaftlichen Entwicklung verschiedener Volkswirtschaften einen genuin sozialistischen, am Produktionsfaktor Arbeitskraft anknüpfenden Standpunkt. Ferner vertrat Jánossy im Anschluß an Marx die These von der zunehmenden Trennung der Wissens-, Forschungs- und Entwicklungsarbeit von der materiellen Produktion dergestalt, daß die Leistungsfähigkeit dieser Teilarbeiterklasse den strategischen Rahmen der produktiven Möglichkeiten der nationalen Gesamtarbeitskraft aufspannt.

Daraus folgerten wir SDS-Theoretiker, daß man nicht mehr (wie die Gewerkschaftsjungen und die Kommunistenkinder meinten) zu den Arbeitern in die Betriebe oder wie die Narodniki zu den Bauern aufs Land gehen mußte, sondern in Universitäten und Forschungsinstituten bereits auf den strategischen Hügeln des kapitalistischen Systems stand, die dortigen F&E-Arbeitskräfte in ihrem eigenen Produktionsprozeß, also schon im Studium, mit politisch-strategischem Selbstbewußtsein zu erfüllen hatte, um später die nationale Gesamtarbeitskraft und den Rest des Volkes auf einen wirklich sozialistischen Weg zu führen.

Die Richtigkeit dieser auf dem Jánossy-Theorem beruhenden SDS-Theorie bestätigte sich gerade auch in der Fülle und Nachhaltigkeit der negativen Folgen der 68er Wortergreifung. Dabei kommen, wie bei jedem theoretisch begründeten Vorgehen, die unerwünschten Nebenfolgen dadurch zustande, daß die wirklichen Ausgangsbedingungen nicht dem Ideal der theoretischen Annahme entsprechen und im Falle des deutschen Hochschul- und Wissenschaftswesens die Hauptmasse der dort herangebildeten und verwandten Arbeitskräfte nicht produktivitätssteigernd, sondern produktivitätsfressend sind, weil hauptsächlich verwaltender und nur zum geringeren Teil erneuernder Natur. Bewahrer sind stets zahlreicher als Entdecker und Erfinder. Lehrer z.B. müssen immer lagekonservativ sein, weil sie die kulturelle Überlieferung zu bewahren und weiterzugeben haben. Es ist äußerst selten, daß sie zugleich Neuerer sind. Nur in der letzten deutschen Klassik trat bei den Deutschen Idealisten der Glücksfall ein, daß die deutschen Denker gleichzeitig Professoren der Philosophie waren.

Die 68er Negativfolgen liegen in der Menge der Bewahrer, in der sprunghaften Vermehrung lagekonservativer Akademiker. Beseitigt wurden hauptsächlich jene Maßstäbe, die der quantitativen Explosion und qualitativen Implosion entgegenstanden. Schlagend ist dies in den Sozial- und Geisteswissenschaften, in denen nach ’68 ausdrücklich unfaustische Autoren auftauchten, die nicht mehr erklären wollten, was die Welt im Innersten zusammenhält, sondern den Pakt mit dem Teufel ohne jede Erkenntnisnot suchten. Oder auch die Dreistigkeit, mit der Scharlatane wie Habermas auftraten, der sein Hauptwerk unter dem Titel Theorie des kommunikativen Handelns vorlegte, ohne auch nur den Begriff der Kommunikation zu deduzieren und ansonsten als systematische Theorie nur drei Begriffe anbot: System, Lebenswelt und die Kolonisierung letzterer durch ersteres. Trotz der negativen Folgen bleibt die SDS-Theorie richtig, daß, wer die F&E-Arbeitskräfte, die Neuerer, Erfinder und Entdecker, politisch führt, gute Aussichten auf die Führung der Gesamtarbeitskraft des Volkes und damit auf die Staatsführung hat.

Aber zunächst möchte ich zu den beiden Ausgangsbehauptungen zurückkehren und erstens den nationalen und zweitens den DDR-Charakter der 68er Wortergreifung belegen. Bernd Rabehl schrieb im März 1967 Notizen zum Problem: Marxismus und Nationalismus: „Die marxistische Linke muß Ansätze des Nationalismus weitertreiben, gerade auf dem neuralgischen Punkt, daß Deutschland geteilt wurde durch den Bundesgenossen USA, der diese Teilung ab Teheran sanktionierte…“ (zit. nach Herderbücherei Bd. 518, S.124). Und Rudi Dutschke schrieb am 12.6.67 im Oberbaumblatt : „Ein von unten durch direkte Rätedemokratie getragenes Westberlin … könnte ein strategischer Transmissionsriemen für eine zukünftige Wiedervereinigung Deutschlands sein.“ Im Oktober 1967 sagte er in einem Gespräch mit Enzensberger, Semler und Rabehl über das Modell der Räterepublik Westberlin, sie solle in dezentralisierte Kommunen aufgegliedert werden, als subversives Zentrum zur Auslösung einer gesamtdeutschen Revolution dienen und in ihrer politischen und sozialen Binnenstruktur so aufgebaut werden, daß sie ganz bewußt zur „Provokation für die Bundesrepublik und auch für die DDR“ (abgedruckt in: Kursbuch 14/1968, S.173) dienen könne. Noch im Februar 1994, auf einer Gedenkveranstaltung für Rudi Dutschke in Luckenwalde, sagte Bernd Rabehl: „Unsere Vision war die nationale Befreiung. Wir kamen ja aus dem Osten.“ ( FAZ 25.2.94)

Typisch mitteldeutsch gedacht daran ist, daß nur Amerika und das BRD-Regime als Gegner ernstgenommen werden, nicht aber das SED-Regime und Rußland. Gegenüber der russischen Besatzungsmacht und ihren Soldaten herrschte in der DDR immer eine eher mitleidig-herablassende Betrachtung vor; Russenfurcht war eine westdeutsche und insonders Westberliner Eigenheit. Auch die feige Kampfesweise der Amerikaner und die kriegsverbrecherische Bombardierung der deutschen Zivilbevölkerung ist nie vergessen worden, wofür aus Eigensucht auch die SED sorgte.

Immer stand klar vor dem mitteldeutschen Bewußtsein, daß der ganze kommunistische Schrecken, den man erdulden mußte, nur von den Westmächten ermöglicht worden war, da sie die Kommunistenherrschaft in Rußland vor dem Untergang gerettet hatten. Mit Recht setzte man alle Unbill aus dem Osten auf das Schuldkonto Amerikas und seiner Vasallen.

Bestens bestätigt sah sich diese Betrachtungsweise, als Amerika in Vietnam einen Bombenterrorkrieg zum „Schutz der Teilung“ führte. Den Wiedervereinigungskrieg Vietnams gegen Amerika haben wir Mitteldeutschen als ureigene Sache unterstützt und der Weltmacht Amerika in ihrem Schaufenster Westberlin die Scheiben eingeschlagen. Auf dem Höhepunkt der Studentenbewegung holte der SDS den Internationalen Vietnam-Kongreß nach Westberlin; Ansichtskarten der von Amerika errichteten Kongreßhalle wurden mit dem Aufdruck „Saigon“ verkauft. Wir waren die Mitsieger des Vietnam-Krieges und nach 1989 mußten die USA ihre Berliner Besatzungszone räumen. Jetzt haben nur die Westdeutschen noch eine Bringschuld gegenüber der deutschen Geschichte: Erst dann, wenn sie die BRD beseitigt haben wie die Mitteldeutschen die DDR, ist die innere Einigung beider Volksteile vollzogen.

II

Neben Westberlin und Frankfurt am Main war Hamburg eine Hochburg der 68er Studentenbewegung. Hier gab es weder eine Konfrontation von jüdischem und deutschem Geist wie in Frankfurt noch eine Anhäufüng gesamtdeutscher Gefühlsspannungen wie in Westberlin, sondern eine ausgesprochen geistferne und gefühlskühle Atmosphäre aus pfeffersäckischer Kaufmannsarroganz und rechtem Sozialdemokratismus. Gerade in Hamburg aber wurde die Wortergreifung idealtypisch inszeniert und der Angriff bis zum Begriff vorangetrieben. Gerade diese Unempfänglichkeit für den 60er-Jahre-Geist ermöglichte und ernötigte es in Hamburg, den Gesamtangriff der 68er auf das System zu bündeln und auf einen Zentralbegriff – den der Ware – zu bringen, aus dem heraus ich das Gesamtsystem der Gesellschaftswissenschaften erarbeitete. Diese letzte Konsequenz wurde als Nachspiel der 68er Wortergreifüng zu einem Vorspiel der 89er Altmachtbeseitigung. Mit ihr begann der zweite Anlauf zur Dekonstruktion des kapitalistischen Weltsystems seit 1933.

Nachdem in Hamburg Jahrhunderte ein handelskapitalistischer Filz als Liberaloligarchie herrschte, wurde er nach dem Ersten Weltkrieg durch eine Sozialoligarchie, einen handels- und industriesozialistischen Filz abgelöst. In der Präambel der gültigen hamburgischen Landesverfassung steht der genuin sozialistische Satz: „Die Arbeitskraft steht unter dem Schutz des Staates.“

Hier war also der richtige Ort, die Sache gründlich zu planen und die Wortergreifung systematisch ins Werk zu setzen, insbesondere da in Westberlin die Bewegung bereits losgetreten war. Der Sinologiestudent Erhard Neckermann und ich entwickelten, angelehnt an Mao Tse-tung, eine einfache Drei-Stufen-Strategie, wie eine permanente Universitätsrevolte herbeizuführen sei. Ich schrieb die Neue Hamburger Taktik . Als nächstes war der SDS in den Zustand der Angriffsfähigkeit zu setzen, die „Revolutionierung der Revolutionäre“ (Dutschke) zu bewerkstelligen. In Hamburg geschah das im Sommersemester 1967 durch Beseitigung des Vorstandes im Handstreich und seine Ersetzung durch einen Aktionsrat. Er führte den Hamburger SDS in viele kleine Übungsangriffe innerhalb der Universität. Dann bescherte uns der Gott der Geschichte den 9. November 1967, die öffentliche Feier zum Rektoratswechsel im „Audimax“, dem Circus Maximus der Universität.

Die politische Polizei war auf diesen Tag gut vorbereitet. Als ich das „Audimax“ betrat, wurde ich sofort festgenommen und in der Dozentengarderobe eingesperrt. Aber jetzt zeigte sich, daß es in vorrevolutionären Situationen nicht auf Strategen oder Rädelsführer ankommt. Die Gelegenheit macht die Revolutionäre, weil der Funke des Aufruhrs auch auf ganz brave Leute überspringt. So haben in Hamburg zwei ehemalige AStA-Vorsitzende sich das nachmals weltberühmt gewordene Transparent mit der Aufschrift „Unter den Talaren Muff von 1000 Jahren“ selbst ausgedacht, selbst gemalt und eigenhändig den festlich einziehenden Talarträgem vorangetragen. Der Tumult und das Echo der Presse waren gewaltig, der Status quo in der größten Westzonen-Stadt verunsichert.

Die Woche der großen Diskussionen zwischen Studenten und Professoren brach an. Und die Hamburger Presse veröffentlichte alles, was dem AStA auf dem Herzen lag. Wir hatten das Wort in einer Diskussion ergriffen, zu der verunsicherte Institutionen sich veranlaßt sahen. Aber eine vollständige Wortergreifung fügt sich keiner Diskussion ein, sondern verfügt, wann, wo und wie diskutiert werden darf. Der Worthaber gewährt das Wort, der Machthaber gewährt den Besitz. (Und er gewährleistet, falls politischer Machthaber, das Eigentum.)

Dieser Unterschied macht es, daß man mit seiner angeblichen Meinung in allen Zeitungen stehen kann, ohne dort auch nur ein Wörtlein sagen zu dürfen. Diese Seite unserer Wortlosigkeit hieß in Hamburg Springer. Die andere Seite war die große Vorlesung: Hochburg unseres Schweigens, Stätte der Zelebrierung der Wissenschaft, Arcanum der Ordinarienherrschaft. Diese andere Seite unserer Wortlosigkeit hieß in Hamburg Hans Wenke: prominenter Pädagogik-Professor, ehemaliger Schulsenator des Hamburger Bürgerblocks.

Auf dieses Zentrum unseres Schweigens eröffnete ich den Sturmangriff mit einer vernichtenden Rezension an Hans Wenkes großer Vorlesung und an seinem Hauptseminar, aus dem er mich postwendend hinauswarf. Der SDS machte (relative) studentische Massen mobil, zwang den AStA zum Bündnis, stellte Wenke ein Ultimatum, sich in seiner Vorlesung einer Diskussion seiner Lehrinhalte, meiner Kritik an ihnen und seines Vorgehens gegen mich zu stellen. Diesem Diskussionsgestellungsbefehl kam Wenke nicht nach, der SDS sprengte seine Vorlesung und verwandelte sie in ein Seminar der sogenannten „Kritischen Universität“, worin der SDS der Worthaber und der Worterteiler war. Wenke, der seine Entwortung nur um ein Jahr überlebte, zog andere Systemlinge in seinen Untergang mit hinein: den Star-Theologen Thielicke, der in der Welt einen Entlastungsangriff mit dem Titel „Armes Deutschland. Statt einer Vorlesung“ veröffentlichte und ein „go-in“ auf seinen Schaugottesdienst im Hamburger Michel abbekam, bei dem plötzlich nicht mehr das „Vaterunser“, sondern mein „Kapitalunser“ gebetet wurde. Thielicke-Freund General Wolff, Chef der Heeresoffiziersschule, hatte hundert Offiziersanwärter zum Schutz von Thielickes Kanzel abgestellt; er bekam eine Herausforderung des SDS zum Streitgespräch über den amerikanischen Vietnam-Krieg ans Tor gesteckt; Wolff nahm die Herausforderung an und bereitete seinen Mannen die Erfahrung einer geistigen Niederlage; er selbst hat das wohl nicht verwunden und begann einige Zeit später, Soziologie u.ä. zu studieren.

Der Disziplinarausschuß der Universität, den der Rektor gegen mich in Stellung bringen wollte, wurde durch Abzug der studentischen Mitglieder aufgelöst, der Rektor selbst einer Rektoratsbesetzung und einem Verhör unterworfen, der mit Wenke solidarische Akademische Senat belagert, die Vorlesungen seiner Mitglieder in Diskussionsforen umfunktioniert.

Die Strategie der permanenten Universitätsrevolte war zum Selbstläufer geworden.

Am 11. April 1968, in Berlin auf dem Kurfürstendamm, gibt Josef Bachmann, ein rechtsnationaler Jungarbeiter aus Sachsen-Anhalt, auf Rudi Dutschke drei Revolverschüsse ab. In Hamburg vor der Staatsbibliothek sagt Henning Eichberg zu mir: „Oberlercher, du bist der nächste!“ Dutschke im Krankenhaus wechselt mit Bachmann im Gefängnis politische Briefe. Als Bachmann begreift, daß Dutschke ein Patriot ist und alles andere als die „allgemeine reale Staatssklaverei“ nach DDR-Art für die deutschen Arbeiter will, bereut Bachmann seine Tat aufrichtig.

Das tragische Mißverständnis zwischen dem mitteldeutschen Arbeiter und dem mitteldeutschen Revolutionär ist ausgeräumt. Der NPD aber, die damals auf dem Höhepunkt ihres Einflusses stand, blieb dies Mißverständnis ein liebes Vorurteil. Sie verspielte ihre historische Chance, als sie sich vor die amerikanische Besatzungsmacht und hinter das kapitalistische System stellte. Das Strafgericht der verschmähten Geschichte war grausam: langsamer Tod durch politische Austrocknung.

III

Das Attentat auf Dutschke erweiterte die deutsche Studentenbewegung zur ideologischen Weltrevolution. Weltweit gab es Bekundungen der Solidarität mit Dutschke und den deutschen Studenten. In Hamburg ergriff der Medizinstudent Karl-Heinz Roth, Führer der Nazi-Kinder-Fraktion im SDS, in den Osterunruhen ’68 die Initiative zur Belagerung des Springer-Hauses. Roth wurde polizeilich gesucht, wir versteckten ihn ein Jahr lang, unterbrochen von seinen Wortergreifungen im „Audimax“, vor polizeilichem Zugriff. Führte der Kampf gegen Wenke in die Theorie, so der Kampf gegen Springer in den Terror. 1975 lag Roth, mit Polizeikugeln im Bauch, auf dem Pflaster einer westdeutschen Stadt. Noch die RAF zündete eine Bombe im Hamburger Springer-Haus. Im selben Jahr 1975 legte ich, bewaffnet mit der zweiten Auflage der dritten Fassung der „Kapital“-Formalisierung, die erste Staatsdeduktion und die erste Negationen-logik vor.

Als mit dem Beginn des Jahres 1968 die „permanente Universitätsrevolte“ in Hamburg zum Selbstläufer geworden war, setzte im SDS der Wettlauf der konzeptionellen Radikalisierung ein. Der liberalistische Feudalismus-Vorwurf gegen die Ordinarien-Universität war ganz schnell zum Gemeingut geworden. Der Liberalismus ist aber politisch-ideologischer Kapitalismus, der jetzt von der liberalen Presse verstärkt wurde. Wollten wir die Initiative behalten, mußte eine Kapitalismus-Kritik her. Die Kommunistenkinder boten den Nazi-Kindern ihre „Kurzen Lehrgänge“ an, die die DDR-Kinder mit Vehemenz verwarfen und stattdessen den SDS und seine neugewonnenen Sympathisanten in „Kapital“-Lesezirkeln zusammenfaßten. Wer kein Kapital hatte, mußte „Das Kapital“ lesen.

Die Rückkehr zur Quelle des Marxschen Hauptwerkes hatte für die mitteldeutschen Revolutionäre, die antikommunistisch motiviert und kapitalistisch geschockt waren, den doppelten Vorteil, sich erstens in die Theorie der kapitalistischen Umwelt hineinzustudieren, sich zweitens durch den systemkritischen Gehalt dieser Systemdarstellung gegen die Systemlinge der Westzone zu behaupten und drittens die Kommunisten von innen her, im Herzen ihrer begrifflichen Rechtfertigung, theoretisch zu vernichten: eine Aufgabe, an der bisher alle konservativen und alle liberalen Denker gescheitert waren, nicht nur in Deutschland.

Auch diese Phase der 68er Wortergreifung wurde in Hamburg idealtypisch ausgeführt. Im auditorium 1-2/69 erschien meine Strategie des pädagogischen Umsturzes , in der als Maßstab, ob eine Wissenschaft fachidiotisch sei oder nicht, folgendes aufgestellt wurde: „Jede Wissenschaft, die sich … nicht mit der Warenanalyse vermittelt, ist idiotisch, d.h. uneinsichtig in das Ganze, in ihren Zusammenhang mit der Gesellschaft.“ Folglich war die neue Oberwissenschaft, die Wissenschaft aller Wissenschaften, die politische Ökonomie, deren Ansatz auf den Denkstil des 20. Jahrhunderts zu bringen und die zu vollenden war.

Anfang ’69 gründete ich im SDS einen Arbeitskreis zur Formalisierung des „Kapitals“, der sich „Internationales Schulungsinstitut“ (ISI im SDS) nannte, 1970 den ersten Band formalisiert hatte und sogleich mit der Massenschulung begann, die nach fünf Jahren verebbte. 1976 war das System der gesellschaftlichen Bewußtseinsformen , 1978 die Allgemeine Theorie der Politik und des Rechts fertiggestellt. In der ersten Hälfte der 80er Jahre rekonstruierte ich Das Subjekt der Weltgeschichte (in: Hegeljahrbuch 81/82) und deduzierte die Theorien der wirtschaftlichen, politischen und ideologischen Verbände sowie des Weltmarktes, der Weltpolitik und der Weltöffentlichkeit programmgemäß aus dem Begriff der Ware. 1986 war das System der Sozialwissenschaften ( Die moderne Gesellschaft, Bern 1987) abgeschlossen, der Wahnsinn der 68er Theorie hatte sein Wahnfried gefunden. Und als am 9. November 1989 die Mauer fiel, fanden die überwältigten Mitteldeutschen dafür nur ein Wort: „Wahnsinn!“

Theorie und Terror schlossen sich anfangs nicht gegenseitig aus, sondern besaßen den gemeinsamen Charakterzug des unbedingten revolutionären Willens. Wie jede Revolution so war auch die 68er Kulturrevolution oder Wortergreifung ein Mirakel: eine große Zahl ganz normaler Studenten, Schüler und Lehrlinge arbeitete plötzlich an größenwahnsinnigen Projekten und konnte sich als Traumberuf nichts anderes vorstellen als den Berufsrevolutionär, diese „Leiche auf Urlaub“ (Lenin). Spontane Opferbereitschaft ist immer Anzeichen einer geschichtsträchtigen Zeit, die fähig ist, einen Mythos zu entzünden, aus dem eine ganze Generation ihr restliches Spießerleben erwärmt. Mit dem 68er Mythos hat die 68er Generation bis heute jenes behagliche Spießerleben geführt, gegen das Terroristen wie Theoretiker sich gesträubt haben.

Schon Marx wußte,

daß nicht der praktische Versuch, sondern die theoretische Ausführung… die eigentliche Gefahr bildet, denn auf praktische Versuche, und seien es Versuche in Masse, kann man durch Kanonen antworten, sobald sie gefährlich werden, aber Ideen, die unsere Intelligenz besiegt, unsere Gesinnung erobert, an die der Verstand unser Gewissen geschmiedet hat, das sind Ketten, denen man sich nicht entreißt, ohne sein Herz zu zerreißen.(MEW 1,108)
Folglich war nicht der Terror, sondern die Theorie das von den linkischen wie von den rechthaberischen Reaktionären Gefürchtete, das der 68er Wortergreifung entsprang.

Die 68er Wortergreifung hatte einen Erfolg: Der Souverän, das Deutsche Volk, geriet ob des Lärms, den wir erzeugten, in ungnädige Stimmung und fragte ärgerlich, was wir denn wollten. Für einen Augenblick hatten wir sein Ohr. Damals wußten wir nicht, wie die neue Ordnung sein sollte. Heute weiß ich es.

IV

Wer als DDR-Kind der BRD angeschlossen wurde – ob als Einzelner in der Zeitspanne 1949-89 oder als ganzer Staatsbürgerverband am 3. Oktober 1990 – hat zwei große Beleidigungen, zwei unsägliche Zumutungen in Gestalt einer kränkenden Erkenntnis erlebt: Erstens den Klassenkampf, und zweitens den Rassenkampf. Das hieß einerseits: Die Kommunisten hatten recht gehabt, den Kapitalismus gab es wirklich, er war mehr als eine ihrer vielen Propagandalügen. Andererseits: Die Nationalsozialisten haben recht behalten: Den Judaismus gibt es wirklich, Jerusalem ist das neue Rom und hält die Völker mit Rassismus nieder. Ersteres nenne ich den Dutschke-Effekt, letzteres den Hoyerswerda-Schock.

Wir Mitteldeutschen sehen uns heute als die Opfer sowohl von Klassenkämpfen als auch von Rassenkämpfen. Zusammen mit den Ostdeutschen sind wir Mitteldeutschen Opfer eines Neusprech-Anschlages der orwellisierten politisch-journalistischen BRD-Canaille, welche die Mitteldeutschen zu ‘Ostdeutschen’ umlügt und die Ostdeutschen namenlos macht: die Vertreibung durch Sprachvertreibung vollendend.

Die DDR-Kinder der 68er Generation erlebten damals nur den Dutschke-Effekt; der Rest der Mitteldeutschen, der erst 1990 der BRD beitrat, erlebt heute millionenfach sowohl den Dutschke-Effekt als auch den Hoyerswerda-Schock, und beides gleichzeitig. Folglich ist ein nationales ’68 zu erwarten, wie Hamburgs Verfassungsschutzchef Ernst Uhrlau 1992 vorhergesagt hat, das ich aber schon im Juni 1987 angekündigt hatte (vgl. Münchner Merkur vom 2.6.87). Die Folgen werden die des Jahres 1968 um ein Vielfaches übertreffen, und 1968 ist nach Klaus Mehnert schon eine Weltrevolution gewesen. Diesmal aber wird das Resultat nicht nur die Vervollkommnung eines bestehenden Systems oder die Ersetzung durch ein anderes sein. Diesmal steht der Sturz der Systemherrschait überhaupt auf der Tagesordnung der Weltgeschichte. Die Herrschaft der Systeme wird abgelöst werden durch eine Ordnung der Welt, die aus reellen Völkerrechtssubjekten sich nach dem Grundsatz Ein-Volk-ein-Staat selbst erbaut.

Das Deutsche Reich ist nur durch Erneuerung der Reichsidee wiederherstellbar. Die Erneuerung einer sehr alten Idee ist eine fundamentalistische Kulturrevolution. Diese Kulturfundamentalrevolution ist ohne die Lehren aus ’68 und ohne die Ergebnisse der 68er Theorie nicht praktizierbar. Jeder 68er, der heute die westliche Wertegemeinschaft bejaht, ist ein Verräter.

Der West-Imperialismus ist ohne Reichserneuerung nicht besiegbar, denn er war von Anfang an eine Konterrevolution gegen das Reich. Jeder 89er, der die Renationalisierung der deutschen Lande im Rahmen der westlichen Wertegemeinschaft anstrebt und auf eine fundamentalistische, die Reichsfundamente erneuernde Kulturrevolution glaubt verzichten zu können, ist ein Narr.

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