Die Gladbecker Geiselnahme war die Fortsetzung der Hafenstraße mit mörderischen Mitteln. Das Gewährenlassen eines Aufstandes ist ein politisches Verbrechen gegen den Staat, das Fahrenlassen von Geiselnehmern eine verbrecherische Politik gegen den Staatsbürger. Von den Geiseln ganz zu schweigen.
Ein einziges Mal in der deutschen Geschichte hat die Sozialdemokratie einen großen Polizeiminister hervorgebracht: Gustav Noske. Damit ihr solches nicht noch einmal passiert, hat die SPD die Länderpolizei, wo sie ihrer habhaft wurde, reformiert. In beispielhafter Weise gelang dies in Nordrhein-Westfalen, wo zwei Reformen der Polizei-Ausbildung verwirklicht wurden: die Nicht-Schieß-Ausbildung und das Anti-Streß-Programm. Diese beiden Ausbildungsprogramme sind das Muster einer sozialdemokratischen Polizeireform, die jetzt auch in Hamburg nachgeahmt werden soll. So haben in der Geiseltragödie die sozialdemokratischen Länderpolizeien von NRW und Bremen ein reformiertes Verhalten gezeigt: das streßlose Nicht-Schießen in Situationen, in denen eine gewöhnliche Polizei geschossen hätte, wohl unter hohem Streß. Und wie in solcher Situation einer Geiselnahme geschossen werden muß‚ ist nicht nur den gewöhnlichen Fachleuten, sondern selbst allen gewöhnlichen Leuten klar: Kopfschuß mit nicht durchgehender (und daher tödlicher) Munition, die der Haager Landkriegsordnung ganz ebenso widerspricht, wie sie dem polizeilichen Zweck entspricht, augenblicklich die Todesdrohung von einem schutzbefohlenen Bürger abzuwenden.
Viele Beobachter meinten, daß die Gladbecker Geiselnahme ein weiteres Menetekel westdeutscher Staatlichkeit sei. Das würdelose Verhalten der Öffentlichkeit hat den existentiellen Mangel der Westdeutschen sichtbar werden lassen, kein Volk zu sein, sondern eine bloße Bevölkerung. Bevölkerung ist ein vom Volksgeist verlassenes, entnationalisiertes (Teil-)Volk, das nicht mehr handlungsfähiges Subjekt ist, sondern gesellschaftliches Funktionssystem. Urteils- und Handlungsschwäche des polizeilichen Ausnahmezustandes lassen die Kraftlosigkeit in künftigen politischen Ausnahmezuständen erahnen. Manifestiert haben sich Systemfunktionalismen von Parteienstaat und Medienherrschaft, nicht aber Subjekthaftigkeit staatlicher und gesellschaftlicher Instanzen.
Das irritierende Sympathisantentum der Öffentlichkeit mit den Verbrechern ist kein neues Phänomen. Schon immer haben sentimentale Jungfern dem Verbrecher Blumen um das Rad geflochten, auf dem er gerichtet wurde. Die Sentimentalität mit dem Verbrecher beruft sich auf den Menschen in ihm und bringt mit eben jener humanistischen Begründung nur die Brutalität – Kehrseite jeder Sentimentalität – zum Vorschein, die dem Verbrecher die Strafe nicht gönnt, welche der einzige und wahrhafte Beweis seiner Aufgehobenheit in der menschlichen Gemeinschaft ist. Denn wie sagt doch General Stumm von Bordwehr in Musils “Mann ohne Eigenschaften“? – Ein renitenter Kavalleriegaul wird gestriegelt und kriegt ein Bündel Hafer außer der Reihe, sein widerspenstiger Dragoner aber wird bei dünner Suppe in ein finsteres Loch gesperrt, und das nur, weil der Reiter Vernunft und Willensfreiheit hat, nicht aber sein Roß.
Die Theorie der Resozialisierung im Strafvollzug will dem Verbrecher das Los des Dragoners ersparen und ihn mindestens so gut wie ein Kavalleriepferd behandeln. Statt den Verbrecher durch die Strafe als Person wiederherzustellen und in Freiheit zu setzen, traktiert die Resozialisierungstheorie ihn als Sache, versklavt ihn zum Behandlungsgegenstand, der den Sozialisationsagenten überantwortet wird. Die Resozialisierung ist der straftheoretische Übergriff der Gesell¬schaft auf den Staat; ihr heimlicher Held ist der Verbrecher, der sein eigenes Gesetz geschaffen hat und die Allmachtsträume der in der Gesellschaft vereinzelten Individuen zu leben gewagt hat.
Die Grausamkeit gegenüber dem Verbrecher liegt in der guten Behandlung der Resozialisierung, sie neidet dem Täter die Tat, entwertet deren Anerkennung als freie Tat, indem sie den Strafcharakter der Strafe abschwächt. Wie das Verbrechen die extreme Willensanmaßung der individuellen Gesellschaftsatome gegenüber dem Staat die vollbrachte punktuelle Individualisierung und damit Auflösung aller Staatlichkeit in gesellschaftliche Autonomie darstellt, so unterwirft das Strafrecht die Person des Täters wieder dem Staat, indem sie ihm das antut, was er von sich abgetan hat, nämlich den allgemeinen Zwang. Strafe ist Wiederverstaatlichung der Person; Resozialisierung ihre Entstaatlichung, tendenziell also dasselbe, was das Verbrechen ist. Innerhalb einer Strafe ist jede Resozialisierungsbemühung eine Verkehrung ihres Zwecks, jeder Freigang verzögert die Freiheit, die nur die Strafe dem Verbrecher zurückgeben kann. Die Gladbecker Geiselnehmer waren übrigens recht vollkommene Produkte der Resozialisierung: in der Mediengesellschaft bewegten sie sich so sicher wie Parteipolitiker.
Durch das Verbrechen hat sich der Täter Strafe verdient;was aber der gemeinste Mörder wirklich nicht verdient hat, ist die Einlieferung in ein zur Besserungsanstalt degradiertes Gefängnis, das ihn regelmäßig auf Hafturlaub schickt. Damit wird seine Ehre als freier Täter bestritten und der Verbrecher zu erneuter, selbstgesetzter Tat geradezu herausgefordert. Nicht umsonst sind die großen tragischen Helden des Kriminalfilms entlassene Sträflinge, die sich selbst beweisen müssen, daß sie zur verbrecherischen Tat noch fähig sind und diese aus freiem Willen erfolgt, ihre eigene Willkürhandlung ist. Überhaupt scheint noch keinem Befürworter der Resozialisierung aufgefallen zu sein, daß erst im bolschewistischen Umerziehungslager mit Gehirn- und Charakterwäsche ihre Ideen wirklich ernstgenommen sind.
Die Gegner des polizeilichen Kopfschusses argumentieren, damit werde die Todesstrafe auf dem Umweg über die Exekutive wiedereingeführt. Abgesehen davon, daß das Lebenslänglich eine grausamere Strafe für einen Mörder ist als der Tod, verfehlt diese Rede den Sachverhalt des Todesschusses, der kein Todesurteil und auch keine Urteilsvollstreckung, somit überhaupt keine Strafe ist, sondern die Abschirmung vor einer akuten Todesdrohung. Der Staat, der selbst im Moment des Verbrechens fürchtet, den Tod des Verbrechers zu verursachen, den Tod seines schutzbefohlenen Bürgers aber eben dadurch riskiert, hat schon aufgehört, legitimer Schutzherr der Landesbewohner zu sein. Er hat das Verbot konkurrierender Gewaltapparate, die die Verantwortung für tödliche Nothilfe gegen entsprechendes Honorar übernähmen, in Frage gestellt. Staatliches Gewaltmonopol und Fehdeverbot beginnen zu bröckeln.